Familie in Berlin, 2020

Kitaplätze? Fehlanzeige. Dann machen Berliner Eltern das eben selber. Doch die Gründung einer Kindertagesstätte erfordert Kampfgeist und Durchhaltevermögen. Eine Geschichte über zwei Projekte und ihren beschwerlichen Weg durch den Ämterdschungel. Von Karl Grünberg

Alles begann mit einer Excel-Tabelle. Christin Gottler erinnert sich noch gut an diesen Moment, der ihr eine Menge Arbeit, große Verantwortung, ein Budget von 242.000 Euro und viele neue Freunde, Bekannte und Mitstreiter einbrachte. Es war ein Moment, der ihr Leben veränderte. Februar 2019. Christin war zuhause, im Wedding, gleich an der Panke, ihr Baby saß auf ihrem Schoß, der Computer stand vor ihr auf dem Tisch, die Excel-Tabelle geöffnet. Darin aufgelistet: die Namen der 15 Kitas und Kinderläden, die sie angeschrieben, bei denen sie angerufen und die sie besucht hatte. „Keiner hatte Plätze oder sie waren schon vergeben oder es gab eine Warteliste oder es waren Kita-Großbetriebe, in die ich meinen Sohn nicht geben möchte“, erinnert sich Christin. Eine Situation, so typisch für Berlin.  Aktuell fehlt es an 8.500 Kitaplätzen, wie der Senat jüngst bekannt gab. In den nächsten vier Jahren könnten es bis zu 25.000 Plätze sein, warnt aktuell der Paritätische Wohlfahrtsverband. Was für die einen bloße Zahlen sind, bedeutet für viele Eltern eine echte Notlage und eine monatelange Jagd nach einem Kitaplatz. Auch Christin war auf der Jagd. Plötzlich war da dieser verrückte Einfall, hatte sich in ihrem Kopf eingenistet und breitgemacht.

Für den langen Weg zur eigenen Kita sollte man gut gewappnet sein.

 „Dann gründe ich einfach selbst eine Kita!“, sagte sie sich. Schnell musste sie lernen, dass „einfach“ daran überhaupt gar nichts ist: Der Paragrafendschungel, durch den man sich schlagen muss. die Konzepte, die man dafür braucht. Die Suche nach geeignetem und bezahlbarem Mietraum für die neue Kita. Und wenn all das geklappt hat, hängt der Nachförderungsantrag fest oder die Fördertöpfe sind plötzlich leer. Diese Geschichte handelt von zwei Eltern-Kind-Initiativen, die dennoch angetreten sind, die Zeit und Nerven und Geld investiert haben, um Kitaplätze zu schaffen, alles gemeinnützig und ehrenamtlich.   

Die einen waren letztendlich erfolgreich – die Kita ist offen. Bei den anderen ist noch alles in der Schwebe – und wenn sie Pech haben, könnte ihr Engagement in der privaten Insolvenz enden. Christin Gottler, von Beruf ist sie Journalistin und Programmmanagerin für den RBB, hat eine ruhige, besonnene Art. Wenn ihr Kind sich den Kopf an der Tischkante stößt und weint, dann springt sie nicht auf, holt kein Kühlpad und keine Kügelchen, sondern streicht ihm beruhigend über die Stirn. Schon ist alles wieder gut. Ruhig ist sie auch, wenn sie auf der Kita-Baustelle steht. Ein ehemaliger Eckladen, uralte Bausubstanz, die Wände sind noch mit Stroh isoliert. Eigentlich sollten hier die Bauarbeiter wuseln und an der Küche weiterbauen. Doch gerade baut hier niemand, denn es herrscht Baustopp.

Es wird beschwerlich: Verantwortung, Organisation und Durchhaltewillen sind gefordert.

Ein wichtiger Nachförderungsantrag von knapp 50.000 Euro hängt seit zwei Monaten beim Senat fest. Inzwischen steht alles auf der Kippe. Der Starttermin für den ersten Kitatag ist ungewiss. Die Erzieherinnen, die dringend ihre Arbeitsverträge brauchen, stehen auf Warteposition. Die Kinder, die eingewöhnt werden müssen, ebenfalls. Beim Baustellenbesuch, im April 2020, sagt Christin leise: „Langsam werde ich unruhig.“  

Immer mehr Eltern lassen sich auf das Abenteuer Kitagründung ein   

Die Lage ist auch zum Unruhig werden. Die Stadt wächst, mit ihr die Zahl der Kinder, und alle haben per Gesetz einen Anspruch auf Betreuung. Doch es fehlt an Plätzen. Im schlimmsten Fall können Eltern nicht wieder anfangen zu arbeiten, weil sie keine Betreuung für ihr Kind finden. Seit 2018 zogen Eltern 160 Mal vor Gericht und klagten ihr Recht auf einen Kitaplatz ein. Berlin versucht gegenzusteuern. Der Senat hat eine Datenbank für eine digitale Kitaplatzsuche angelegt. Das Programm „Auf die Plätze, Kitas, los!“ fördert neue Kitaplätze mit 16.000 Euro pro Platz. 67 Millionen Euro für 2020 und 33 Millionen Euro für 2021 sind für den Kitaausbau eingeplant. Das ist die komplizierte Gemengelage.

Und mitten in dieser Gemengelage gibt es Eltern wie Christin, die nicht warten können und selbst aktiv werden. Doch wie einfach oder schwer ist das? Wie viel Zeit und Nerven sollte man dafür mitbringen? „Es werden mehr, die sich auf das Abenteuer Kitagründung einlassen“, sagt Babette Sperle vom Daks, Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden, zuständig für die Kita-NeugründerInnen-Beratung. Alle vier Wochen veranstaltet der Daks ein vierstündiges Seminar. Früher seien es nur eine Handvoll Leute gewesen, jetzt seien 25 und mehr Interessierte dabei. Jedes Jahr nimmt der Verband 30 neue Kinderläden in seinen Reihen auf. Doch man solle sich keinen Illusionen hingeben, schiebt Sperle schnell hinterher. Eine eigene Kita sei nichts, was man eben mal macht.

„Es ist eine Reise. Ein Projekt, das Enthusiasmus, Durchhaltewillen und Idealismus erfordert.“

Babette Sperle vom Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden.

All das – und Zeit. Sperle schätzt, dass man circa zwei Jahre einplanen müsse: von der Idee über die Baumaßnahmen bis zur Eröffnung.

Christin Gottler hat sich vor 18 Monaten auf die Reise gemacht. Als allererstes bestellte sie sich ein Buch zum Thema Kitagründungen, dann sprach sie mit vielen Leuten darüber, traf zufällig auf Heide, die ebenfalls noch keinen Kitaplatz für ihr Kind gefunden hatte. Gemeinsam legten die beiden los. „Pankonauten“ soll ihre Kita im Wedding heißen, 18 Kinder soll sie mal haben, und sie wollen möglichst nachhaltig vorgehen, beim Bauen und im Kita-Alltag so gut wie keinen Müll produzieren. Umweltbildung soll ein Schwerpunkt werden.

Immer wieder bleibt man stehen und fragt sich, was mache ich hier eigentlich.

Auch Anna Müller und Jakob Voigt haben sich getraut. Sie kommen aus Neukölln und wollen ihre eigene Kita im Kiez gründen. „Hoppipolla“ soll sie heißen, 20 Kinder würden hier einen Platz bekommen. In ihrer Kita soll besonders darauf geachtet werden, dass Kinder nicht aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht diskriminiert werden. Einen Schutzraum für Kinder of Color wollen sie schaffen, partizipativ mit den Kindern umgehen, frei von Genderklischees.

Die schwierige Suche nach den passenden Räumlichkeiten

So ein Projekt habe auch etwas mit Selbstfindung zu tun, sagt die Daks- Expertin Sperle: „Wer bin ich, was kann ich, was bin ich bereit zu geben, wie viele Mitstreiter habe ich? Diese Fragen sollte man sich unbedingt vorher beantworten, damit man nicht grandios scheitert.“ Die erste Hürde ist die obligatorische Informationsveranstaltung, die die Senatsverwaltung selbst ausrichtet. Früher fand das einmal monatlich statt, wegen der hohen Nachfrage nun zweimal. Laut Senat haben in den letzten 22 Monaten 911 Menschen an diesem Seminar teilgenommen. Von diesen hätten später aber nur 74 all die Unterlagen und Konzepte zur Prüfung eingereicht.

Der Daks bietet zusätzlich das Neugründerseminar, Broschüren und Informationsmaterial an. Dann geht es an die Arbeit. Christin fuhr damals extra eine Woche zu ihren Eltern, die kümmerten sich um das Kind und sie haute in die Tasten. Ihre Mitstreiterin Heide klappte den Computer auf, sobald das Kind eingeschlafen war. Ein Trägerkonzept musste geschrieben werden, da geht es um die Rechtsform, um die Finanzierung, um die Eignung der Verantwortlichen, um Qualitätssicherung und Personalmanagement, um den Vorstand, die Elternbeteiligung – ein Kinderschutzkonzept gehört auch dazu und dann noch ein pädagogisches Konzept.

Zwischendurch freut mich sich auf die schönen Dinge, die die Kinder dann machen können, wenn man es endlich geschafft.

Ein Verein musste gegründet werden. Die beiden sprachen auf der Straße andere Eltern an, machten Aushänge, veranstalteten ein Sommerfest, trafen sich oft und viel und lange. Immer mehr kamen dazu. Arbeitsgruppen wurden gegründet. Wer entscheidet was? Wie sorgt man für einen guten Informationsfluss? Alles Dinge, die geklärt werden mussten. „Die Treffen mit der Kitaaufsicht hatten etwas sehr Ernstes und Staatstragendes. Wir wurden auch abgefragt, wer denn dieser Jesper Juul gewesen sei, der da in unserem Konzept steht“, erinnert sich Christin.

Wenn all die Konzepte bewilligt wurden, müssen passende Räume gesucht werden. „Das ist in Berlin die nächste große Hürde“, sagt die Daks-Expertin Sperle. Häufig zu hohe Mieten, häufig zu wenige Angebote. Dann soll die Kita für 15 bis 20 Kinder zwischen 120 und Förderung beglichen werden dürfen. Und schließlich muss man sich noch mit Vorschriften auseinandersetzen: Der Abstand der Garderobenhaken soll mindestens 20 Zentimeter betragen, bei Handtuchhaken sind es mindestens 15. Doch warum ist das alles überhaupt so kompliziert? Warum erleichtert man Eltern, die neue Plätze schaffen und Berlin damit entlasten wollen, nicht einiger dieser Schritte? „Der Verantwortungskreis für Träger einer Kita ist sehr umfänglich und umfasst vielfältige Themengebiete und Felder“, sagt die Senatsverwaltung dazu und: „Wer die erforderlichen Kenntnisse nicht aufweisen kann oder nicht in der Lage ist, sich entsprechendes Wissen anzueignen und konzeptionell umzusetzen, sollte einen anderen beruflichen Weg einschlagen.“ Soll heißen: Wer eine Kita stemmen 150 Quadratmeter groß sein, die Straßen dürfen nicht zu stark befahren sein, es braucht genügend Licht, Gruppenräume dürfen keine Durchgangsräume sein. All das muss durch die Kitaaufsicht begutachtet und genehmigt werden.

Christin und die Pankonauten hatten Glück. Sie fanden schnell ein Ladengeschäft, das passend war. Der Vermieter wollte keinen Friseur, keine Sisha-Bar. Eine Kita schien ihm genau das Richtige zu sein. Dann kommt der Architekt ins Spiel, der den Kita-Ausbau entwirft und einen Bauplan erstellt, aus dem ein Bauantrag ergeht, der eingereicht und genehmigt werden muss. Und schließlich muss der alles entscheidende Antrag auf Bauförderung gestellt werden. 16.000 Euro gibt es hier pro Kind. Dazu kommen noch einmal ein Eigenanteil von 10 Prozent und zusätzliche Kosten, wie Kautionen, die nicht von der möchte, muss was auf dem Kasten haben, deswegen die ganzen Hürden.

Leere Fördertöpfe, große Sorgen – alles in der Schwebe

Christin schließt auf. Die Tür quietscht. Eine Baulampe spendet Licht in den unfertigen Zimmern. Hier steht eine Leiter, dort ein Gerüst, ein Grundriss hängt an der Wand. Doch die Kita lässt sich schon erahnen. Große Räume, runde Wände und eine Küche, in der die Kinder auf einem niedrigen Tresen mitkochen können. Christin zeigt hierhin und dorthin, erklärt wie der Raum wirken soll, wie das mit ihrem Konzept harmoniert. So wie sie das schildert, könnte man meinen, dass schon alles fertig ist, die Tür gleich aufgeht und die Kinder vom Spielplatz gegenüber hereinströmen. Doch weil das Gebäude alt ist, der Boden doch neu gemacht und die alte Deckenverkleidung doch abgebaut werden musste, brauchen sie mehr Geld. Der Nachförderungsantrag, den sie deshalb stellten, hängt fest, seit zwei Monaten schon. Alles scheint wieder in der Schwebe.

Nach knapp zwei Jahren ist es dann endlich soweit. Die eigene Kita kann eröffnet werden.

Auch bei den Hoppipolla-Eltern in Neukölln ist alles in der Schwebe. Pech hatten sie mit dem ersten Mietvertrag. Der Vermieter veränderte immer wieder die Bedingungen, so dass die Eltern nach vier Monaten Verhandlung entnervt weitersuchten. Dann schien alles zu klappen: neue Räume und ein fairer Mietvertrag, auch das Kitakonzept war genehmigt worden, den Bauantrag hatten sie fertig ausgefüllt und eingereicht sowie den alles entscheidenden Förderungsantrag gestellt. Das war im März 2020. Dann passierte erstmal gar nichts. Corona kam, aber keine Bewilligung, dann lag ein Brief im Briefkasten: Ihr Antrag ist abgelehnt, die Fördertöpfe sind leer, das Kitaausbauprogramm hat kein Geld mehr, die 67 Millionen für 2020 sind bereits ausgegeben worden. „Das hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen. Wir sind ja keine reichen Leute. Wir sahen uns schon in der Privatinsolvenz“, erinnert sich Jakob.

Für die Mietkaution und den Architekten waren sie mit 20.000 Euro in Vorleistung gegangen, mussten bereits Miete zahlen, hatten fest mit der Förderung gerechnet. Was sollten sie jetzt tun? Sie schrieben der Presse, machten eine Social-Media- Kampagne, wandten sich an eine Crowdfundingplattform, baten Instagram- Influencer um Unterstützung. „Plötzlich ging es nicht mehr ums Aufmachen, sondern um unsere Rettung, und das, bevor wir überhaupt angefangen haben“, sagt Jakob.

Puh. Was für ein Weg. Jetzt erstmal ausruhen.

Verloren ist Hoppipolla noch nicht. Denn im Herbst soll es Corona-Folgen- Investitionsgelder vom Bund geben, von denen die Senatsverwaltung 48 Millionen für den Kita-Ausbau bereitstellen möchte. „Da sind wir dann hoffentlich mit dabei“, sagt Jakob. Dank einer erfolgreichen Crowdfundingkampagne sind die Mietkosten bis November zusammengekommen. „Wir sind sehr dankbar dafür“, sagt er. „Eigentlich ist es ja völlig wahnsinnig: Wir wollten doch nur eine Kita gründen. Noch haben wir Hoffnung, dass am Ende alles gut wird.“ So wie bei den Pankonauten. Nach vielen Telefonaten und einem Brief an den Bezirksbürgermeister ist ihr Nachförderungsantrag genehmigt worden. Inzwischen ist die Kita fertig, die Erzieherinnen haben ihre Arbeitsverträge unterschrieben und die ersten Kinder sind eingewöhnt. „Das war so ein schönes Gefühl, als ich nach der ganzen Arbeit mein Kind in unsere neue Kita bringen konnte“, sagt Christin Gottler. Der lange Kampf durch Excel-Tabellen, Antragsformulare, Baupläne und Bewilligungsgespräche – er hat sich am Ende doch gelohnt.

Nachtrag: Die Pankonauten sind inzwischen geöffnet. Hoppipolla hat die Fördergelder bewilligt bekommen und startet den Ausbau.

Von: Karl Grünberg, erschienen im Magazin „Familie in Berlin“, 2020