Chrismon, März 2015

Es ist 4.33 Uhr, praktisch mitten in der Nacht, als es an der Tür klingelt. Kurz darauf brummt das Handy. Dann klingelt das Festnetztelefon. Der Anrufbeantworter springt an. Er ist es. Plötzlich ist seine Stimme in ihrer Wohnung. Anne Röder ist hellwach und spürt, wie das Adrenalin durch ihren Körper pumpt, wie das Herz rast, wie es im Kopf rauscht, wie die Angst da ist.

„Hallo Anne, hier ist Jan“, sagt die Stimme. Gepresst, ­abgehackt. „Unten steht etwas für dich.“ Pause. Atem. „Ich hoffe…“ Pause. Atem. „…sie gefallen dir.“ Klick. Vorbei.

Auch diese Nachricht muss Anne Röder* speichern, die Uhrzeit, das Datum und den Wortlaut in ein Protokoll für die Polizei eintragen. Dazu kommen die Fotos von den Rosen mit der Karte vor ihrer Haustür. Die einzigen Mittel, mit denen sie sich gegen die Nachstellungen wehren kann, sind Geduld, Beharrlichkeit und die Hoffnung, dass er irgendwann aufhören wird.

Anne Röders Geschichte spielt in Berlin. Sie ist einer von etwa 25 000 jährlich in Deutschland polizeilich erfassten Stalkingfällen. Beratungsstellen wie „Stop-Stalking“ und „Gemeinsam gegen Stalking“ zufolge liegt die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher. Doch Statistiken verraten wenig darüber, wie sehr Stalker es schaffen, das Leben ihrer Opfer zu bestimmen. Und was Menschen wie Anne Röder alles anstellen müssen, um dem ein Ende zu bereiten.

Röder ist Anfang 40, sie hat Sprachen studiert und arbeitet seit zehn Jahren als selbstständige Kommunikationstrainerin. Sie gibt Seminare für Unternehmen, Ins­titute und Organisationen, in ihrem Stadtteil, deutschlandweit und manchmal auch im Ausland. Man kann sagen, dass sie fest im Leben steht. Oder stand. Seitdem „dieser Mensch“, so nennt sie ihn, sie stalkt, ist fast nichts mehr wie vorher.

Der Stalker glaubt: Sie ist für ihn bestimmt, sie hat es nur noch nicht erkannt

Es begann am Nachmittag des 5. Juni 2014, einem Donnerstag. Anne Röder bot ein wöchentliches Gruppen­seminar in ihrer Nachbarschaft an. Wer wollte, konnte mitmachen. Anne arbeitet gerne so. Sie geht mit Grundvertrauen auf die Menschen zu und nimmt jeden so an, wie er ist. Der Mann kam ihr schüchtern vor, wie er zusammengesunken im Stuhlkreis saß und niemanden anschaute. Später schrieb er ihr, dass er 31 Jahre alt sei, einen Abiturdurchschnitt von 2,2 habe, verhei­ratet sei und zwei Kinder habe, dreimal ein Studium begonnen habe und seit 2005 als Taxifahrer arbeite.

Bei einer Konzentrationsübung standen alle im Kreis, fassten sich an die Hände und schlossen die Augen. Er stand neben ihr. Plötzlich spürte sie, wie er langsam mit seinem Daumen über ihren Handrücken streichelte. „Eklig war das“, sagt sie und schüttelt sich. „Erst war ich überrascht, dann habe ich mir eingeredet, dass ich die anderen nicht stören will. Dabei hätte ich für mich einstehen müssen.“

In der nächsten Woche war er wieder da, fing sie nach der Stunde ab und folgte ihr. „Bitte nehmen Sie“, sagte er, einen Briefumschlag in der Hand. Sie wollte nicht, wollte ihn fortjagen, den Brief auf den Boden werfen. Doch sie nahm ihn. „Ich war wie hypnotisiert.“

Darin lag eine CD, dazu kopierte Liedtexte über Lippen, die sich zärtlich küssen, und eine Nachricht: „Danke, dass Sie so attraktiv sind. Danke, dass Sie so weiblich sind. Danke, dass Sie so unbeschreiblich schön sind.“ Am nächsten Tag schickte er eine Mail mit Bildern von Sonnenuntergängen. Sie versuchte, es gelassen zu nehmen. Bis ein Brief ohne Briefmarke und ohne Poststempel in ihrem Hausbrief­kas­ten steckte. „Er ist zu meiner Wohnung gefahren und in meine Privatsphäre eingedrungen“, sagt sie. Die Adresse stand auf ihrer Geschäftshomepage.

Sie sah sich die Kopien der Liedtexte näher an und entdeckte in einer Quellenangabe den Namen einer psychiatrischen Einrichtung. War er in Behandlung? Zu was ist er fähig? Sie schrieb ihm, dass sie keinen Kontakt wolle und er nicht mehr in ihr Seminar kommen dürfe. Er reagierte mit noch mehr Mails.

„Er denkt, dass sie für ihn bestimmt ist, sie hat es nur noch nicht erkannt.“ Wolf Ortiz-Müller ist Psychotherapeut und ­Leiter der Beratungsstelle „Stop-Stalking“, die Betroffenen hilft – und auch mit Stalkern arbeitet. Diese Menschen, sagt er,  verstünden die Regeln der sozialen Interaktion nicht. Ein Lächeln sei eine Zuwendung, eine Zurückweisung unvorstellbar. Der Satz „Lassen Sie mich in Ruhe!“ werde als Aufforderung zum Weitermachen verstanden.

„Stalking“, sagte eine Freundin, als Anne vom aufdringlichen Kursteilnehmer erzählte. Das rüttelte sie wach. „Mit diesem Begriff im Kopf konnte ich endlich aktiv werden“, sagt sie. Im Internet fand sie Ratschläge von Polizei und Fachstellen. Sie solle Freunde, Familie, Bekannte, Kollegen und Nachbarn informieren, heißt es dort, damit sie nicht allein damit bleibt, dass jemand in ihr Privatleben einzudringen versucht. Außerdem solle sie unbedingt Anzeige erstatten.

Seit 2007 stellt der sogenannte Nachstellungsparagraf 238 des Strafgesetzbuchs Stalking unter Strafe. Wer einem Menschen unbefugt und beharrlich nachstellt und ihn dadurch in seiner Lebensgestaltung schwerwiegend beeinträchtigt, kann mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Doch die Wörter „beharrlich“ und „schwerwiegend“ sind ungenau. Eindeutig schwerwiegend ist es nur, wenn jemand seinen Arbeitsplatz oder seinen Wohnort wechseln muss. Aber alles andere? Angst, Panikattacken und Schlaflosigkeit zählen nicht dazu.

Mehr noch: Der Täter muss erst das Leben seines Opfers aus dem Tritt bringen, bevor es überhaupt zu einer Anklage kommen kann. Und auch dann ist nicht sicher, ob der Horror aufhört. 25 000 Stalking­anzeigen pro Jahr stehen rund 700 Anklagen und nur etwa 400 Verurteilungen gegenüber. Oft können Polizei und Justiz nichts für die Betroffenen tun.

Die Bloggerin Mary Scherpe wird seit zwei Jahren verfolgt. Sie hat ein Buch über ihre Erfahrungen geschrieben und rund 80 000 Unterschriften für eine Petition gesammelt. Dass es eine Diskrepanz gibt zwischen Anzeige und Anklage – das ist inzwischen auch in der Politik angekommen. In ihrem Koalitionsvertrag haben SPD und CDU niedrigere Hürden für eine Verurteilung und einen besseren Opferschutz angekündigt. Bundesjustizminister Heiko Maas traf sich im Dezember 2014 mit der Bloggerin und kündigte eine Gesetzesvorlage an.

Anne Röders Gang zur Polizei war überraschend unkompliziert. „Fast einfühlsam, wie sie sich um mich gekümmert haben“, sagt sie. Eine Sachbearbeiterin übernahm ihren Fall und blieb dann für sie zuständig. Außerdem wusste sie nun, dass der Mann schon einmal wegen Stalking angezeigt wurde. „Das hat mich komischerweise beruhigt, weil es der Polizei bestätigt hat, dass ich keine Hirngespinste habe“, sagt sie. Zusätzlich sollte sie beim Gericht eine einstweilige Verfügung beantragen, so dass sich der Stalker ihr nicht mehr nähern und sie nicht kontaktieren dürfte. „Sie werden einen langen Atem brauchen“, hatte die Polizistin ihr prophezeit.

„Gestalkt zu werden ist wie ein Vollzeitjob. Alle Energie, alle Aufmerksamkeit, alle Lebensfreude werden absorbiert. Es gibt nur noch die Angst, die Beklemmung, die Unsicherheit“, sagt Anne Röder. Für ihren Job hatte sie keine Zeit und Kraft mehr. Sie verschob ihre Seminare oder sagte sie ab. Auch nach der Anzeige schrieb der Stalker Mails und Briefe. Er rief an, tagsüber, nachts, auf dem Handy und dem Festnetz. Er schickte Fotos von Hochzeitskleidern, sagte, dass er sie heiraten und ein Kind mit ihr haben möchte. Riet ihr, was sie sich zu essen machen solle. Er buchte einen gemeinsamen Urlaub. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Botschaften an die Polizei weiterzuleiten. Außerdem musste sie Anträge und Begründungen für das Familiengericht verfassen. In manchen Wochen ging sie täglich auf die Wache.

„Die Opfer“, sagt Wolf Ortiz-Müller von „Stop-Stalking“, „sind erschüttert, fühlen sich eingeengt, bedroht oder belästigt. Sie spüren, dass der Stalker ihr Leben be­stimmen möchte.“ Wenn Anne Röder ein Taxi sah, zuckte sie zusammen. Sie sagt: „Ich hatte immer nur diese Gedanken: Wo ist er, was hat er vor, wird er vor der Tür auf mich warten?“ Damit sie ihm nicht allein begegnete, bat sie ihre Freunde um Hilfe. Abwechselnd übernachteten sie bei ihr oder sie bei ihnen. Sie begleiteten sie auf dem Heimweg.

Anne Röders Beharrlichkeit zahlte sich nach zwei Monaten aus. Die Sachbearbeiterin von der Polizei hatte den Stalker immer wieder ange­rufen und Kollegen zu sogenannten „Gefährderansprachen“ geschickt. Wenn er bei ihr klingelte und die Streife ihn noch erwischte, erhielt er Platzverweise. Das Familiengericht hatte der einstweiligen Verfügung stattgegeben. Mit jedem weiteren Kontakt verstieß der Mann nun gegen das Gewaltschutzgesetz. Geldbußen drohten.

Zunächst hielt ihn auch das nicht auf. Doch am 16. August fand Röder tausend Euro in ihrem Briefkasten. „Ich möchte für die Frau meiner Wahl da sein, auch wenn sie nicht antwortet“, schrieb er dazu. Auf seine Art klang es nach Abschied. Vielleicht sollte das Geld eine Entschuldigungsbitte sein. Anne Röder weiß es nicht. Sie wollte es jedenfalls nicht haben und gab es der Polizei. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.

Erst konnte sie nicht glauben, dass sie den Stalker los war. Noch Wochen später rechnete sie damit, dass er plötzlich vor ihr steht. In einem Brief an Anne und an die Richterin vom Familiengericht findet sich so etwas wie eine Erklärung: Er habe eingesehen, dass es nicht nur um seine Wünsche geht, „die Frau muss es sich auch wünschen“. Weiter unten bittet er „herzlicher­weise, von weiteren Geldbuße- und Kos­tenbescheiden abzusehen“.