Nachrufeschreiber und Journalist Karl Grünberg.

Jeden Sonntag erscheinen im Tagesspiegel Nachrufe auf normale Berliner und Berlinerinnen. Die Rubrik ist eine der am meisten gelesenen Seiten der Zeitung. Seit 2013 schreibe ich mal einen, zwei oder drei Nachrufe im Monat. Diese Arbeit macht mir große Freude, auch wenn es zugleich oft traurig ist. Ich lerne viel durch die Menschen, über die ich schreibe. Ich lerne aber auch viel über das Leben und den Tod, über Liebe und Familie. Wie die Angehörigen mit ihrer Trauer und mit der Erinnerung an den Verstorbenen umgehen, ist jedesmal anders und einzigartig.

Ein Erinnerungs-Gespräch dauert zwei bis drei Stunden. Dabei stelle ich Fragen, hake nach, strukturiere, versuche zu verstehen und helfe bei den Erinnerungen. Da ich neutral bin und nicht werte, kommen dabei oft Geschichten, Emotionen und Details zur Sprache, die lange vergessen waren oder über die man nie so offen geredet hat.

Allein das Gespräch hilft den Angehörigen in der Trauerverarbeitung und der Erinnerung. Ebenso, den Nachruf dann gedruckt in den Händen zu halten und ihn dann zu lesen.

Das Jetzt zählt, alles andere spielt keine Rolle

Man muss sie nehmen, wie sie ist. Denn wenn sie was nicht mag, dann fährt sie aus der Haut. Eine Herausforderung für alle. Und eine Bereicherung! Ein Nachruf auf Stephanie Meyer.

Stephanie hat ein Gespür dafür, wer ihr in diesem Moment guttut und wer nicht. Ist zum Beispiel schon eine Oma da, braucht sie die zweite nicht mehr. Dann nimmt sie diese an die Hand und führt sie vor die Tür und schließt sie. Man darf das nicht persönlich nehmen. Stephanie ist halt so. Mag sie jemanden, riecht sie an dessen Hand oder an den Haaren. Mag sie jemanden noch mehr, küsst sie die Hand, und ganz selten gibt sie jemanden einen Kuss auf die Wange. Eine Ehre.

Man muss Stephanie nehmen, wie sie ist. Man darf auf keinen Fall versuchen, sie zu verbiegen. Wenn sie was nicht mag, dann fährt sie aus der Haut. Sie beißt sich, schlägt um sich, schmeißt Stühle oder zerlegt ihr Zimmer. Zwar entschuldigt sie sich danach, will unbedingt, dass alles wieder gut ist. Doch es führt dazu, dass die Lehrkräfte in der Schule Angst vor ihr haben. Das wiederum spürt Stephanie mit ihren feinen Antennen.

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Leicht ist es mit ihr

Lange war sie auf der Suche nach ihrem Platz im Leben, machte eine Yoga-Ausbildung, lernte Hebräisch. Der Nachruf auf eine, die schließlich angekommen schien. Ein Nachruf auf Moyra Wollenberg.

Plötzlich platzt es aus ihren Freunden heraus: „Ich war in Moyra verliebt.“ – „Ich auch.“ – „Mensch, ich doch auch.“ – „Und ich erst, monatelang!“ Die Freunde schauen sich an, kurz ist es still, dann lachen sie. Es ist ein Samstag im Dezember. Sie stehen vor der Palliativ-Station des Krankenhauses, trinken Tee und Kaffee, rauchen Zigaretten, eine spielt Gitarre, einer singt, manche weinen still. Einer nach dem anderen geht ins Haus, die Treppe hinab, durch die Kapelle in einen kleinen Raum. Dort liegt Moyra, aufgebahrt, ganz dünn. Trotzdem wirke sie wie eine Königin, sagen sie, die Lippen rot geschminkt, die Haare gekämmt. Özgür hat sie hübsch gemacht.

2011, Istanbul. Moyra macht hier ihr Auslandssemester. Sie will Türkisch lernen und für ihre Psychologie-Abschlussarbeit Interviews mit Betroffenen von häuslicher Gewalt führen. Sie will aber auch auf Partys, Konzerte und das eine oder andere Abenteuer mit einem hübschen Mann erleben. Nur eine Beziehung will sie nicht, das hat sie diesem Özgür auch gesagt. Der schaut sie immer so verliebt an, lädt sie zum Frühstück und zum Abendessen ein, geht mit ihr am Bosporus spazieren, schreibt Nachrichten und schenkt ihr eine silberne Zigarettenbox. „Ich bin fast verrückt geworden“, sagt Özgür heute. „Immer hab ich an sie gedacht. Ich wollte, dass aus der Verliebtheit eine Liebe wird.“

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Verrückter Superheld

In Brasilien geboren, in Luxemburg aufgewachsen, Electro-Musik und Feierlaune. Berlin war seine Stadt. Oder? Ein Nachruf auf Marco Reckinger.

Es endet damit, dass 100 Menschen an einem kalten, nassen Januarabend auf dem Bürgersteig stehen und sich von Marco verabschieden. Es sind Nachbarn aus der Straße, Leute aus dem Neuköllner Kiez, der Späti-Besitzer. Sie können nicht fassen, dass Markus gestorben ist. Dieser schlaksige Kerl, 33 Jahre jung, mit den wuscheligen, schwarzen Haaren. Seit zwei, vielleicht drei Jahren lebte er auf der Herrfurthstraße, zuletzt in einem überdachten Eingang, eingewickelt in seinen Schlafsack, nur die Augen schauten raus.

Markus, so hatte er sich genannt. Marco war sein richtiger Name. Er führte Selbstgespräche, schimpfte mal laut, mal leise mit den Stimmen in seinem Kopf. Er trank, viel, oft und oft schon morgens. Einer von den U-8-Bahnhof-Junkies war er aber nicht. Er saß auch nie bei den anderen Trinkern. Marco war in seiner eigenen Welt.

Wenn er aber klar war, half er dem Späti-Besitzer beim Kisteneinräumen. Tanzte zu lauter Hiphop-Musik aus dessen Boxen. Grüßte die Schulkinder mit erhobenen Daumen. Hatte ein ansteckendes Lachen zu verschenken. Die Nachbarn mochten ihn. Und sie machten sich Sorgen um ihn, brachten Essen, Tee, Decken und Matratzen oder riefen, wenn sie glaubten, dass es schlecht um ihn stand, einen Rettungswagen. Doch Marco lehnte ab.

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Michael Brauer (Geb. 1941)

Musste nichts – konnte fast alles. Er war ein eher ungewöhnlicher Bibliothekar. Wer Bücher zu spät abgab, musste Klimmzüge machen oder mit ihm Dart spielen. Der Nachruf auf einen Exoten.

Michael liebte diese Badewanne. Wie sie dastand, im Freien, unter den Obstbäumen, sogar mit warmem Wasser. Da legte er sich gerne rein, genoss die Wärme, die Sonne und sein Leben, das er irgendwie in der Bonhoeffer-Nervenklinik geparkt hatte. Fünf Jahre verbrachte er hier mit Mitte 20. Er musste nichts und konnte fast alles, sie ließen ihn spielen, basteln, Musik hören, lesen, sich mit den anderen anfreunden, mit den Schwestern und Ärztinnen flirten. Herrlich.

Wie er reingekommen war? Sein Leben war heftig und hemmungslos, und manchmal kam es vor, dass er, völlig von der Rolle, wie wild um sich schlug. Einmal traf es seine Mutter. Die Polizei nahm ihn mit, er landete vor Gericht, wurde aber als schuldunfähig eingestuft. Also: Bonnys Ranch, wie die Bonhoeffer-Klinik genannt wurde. Aufenthaltsdauer: unbestimmt.

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Frieda Krüger

Mit dem Klassenfeind aufs Wasser – warum lud sie so viele Leute aus dem Westen ein? Doch nicht wirklich zum Rudern! Die Stasi vermutete das Schlimmste. Der Nachruf auf eine Frau in Bewegung.

Sie wollten doch nur rudern, die Skulls über das Wasser gleiten lassen, den Morgennebel bestaunen, den Vögeln hinterherschauen, dann den Fluss hoch, durch die Schleuse und irgendwo auf einem schönen Flecken Wiese landen, gemeinsam die Zelte aufbauen, eine Flasche Wein öffnen, lachen, was man eben so macht, wenn sich Ruderer treffen, die einen aus Ost-Berlin, die anderen aus Kiel, München oder Zürich.

Die Stasi vermutete das Schlimmste. Warum lud diese Frieda Krüger so viele junge Leute aus dem Westen ein, Klassenfeinde? Umsturzplanung, getarnt als Ruderausflug in den Spreewald? Hatten sie es auf sowjetische Militärschiffe abgesehen? Jahrelang stand die brave Ruderin unter Kontrolle, Spitzel fotografierten sie, lauerten in Büschen, legten Akten an. Darin war jede einzelne ihrer Rudertouren aufgelistet, und es waren hunderte. Frieda legte bis zu 3000 Kilometer im Jahr im Boot zurück. Und sie wollte wirklich nur das eine, rudern, ob mit Freunden aus dem Osten oder aus dem Westen. Das Einzige, was man ihr womöglich hätte vorwerfen können: Frieda war frech.

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Gertrud Tschinkel (Geb. 1931)

Schließlich fand sie kleine Blumensträuße auf ihrem Fahrradsattel

Gertrud nannte es das Kartoffelwunder. Es war Winter, sie lief die Landstraße entlang und stemmte sich gegen den schneidend kalten Wind Mecklenburgs. Ihr Blick glitt umher, spähte in die Gärten und auf die Felder. Etwas zu essen. Irgendetwas. Bitte. Ihr Bauch war so leer, seit Tagen schon.

Das war Ende 1946. Hinter Gertrud lagen schwere Monate. Georgswalde im Sudetenland war der Ort ihrer Kindheit. Ihr Vater war ein Mustermacher in einer Textilfirma. Die Familie hatte eine Haushälterin und eine Wäschefrau. Es gab ja viel Wäsche: Gertrud hatte vier Brüder. Nach der Schule kamen die Nachbarskinder zum Spielen. Eine Kindheit, heil und unbeschwert, auf dem Bauernhof mit den Weinranken, an denen die Trauben prall und saftig wuchsen.

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Thea Masloke (Geb. 1924)

„Dann nimm mich doch mit“

Alle sagen, dass Thea Masloke ein besonderer Mensch war. Doch wie beschreibt man diese Besonderheit, wenn das herausragende Merkmal nicht in einer weltbewegenden Arbeit liegt oder einer großartigen Erfindung? Wenn das Besondere nicht in großen Taten, sondern viel mehr darin bestand, wie Thea Masloke einfach war?

Vielleicht beginnen wir mit ihrer Körperhaltung. Die ist allen gleich aufgefallen. Kerzengerade hat sie sich gehalten. Rücken, Schultern, Kopf: eine Linie. Und groß war sie. Die Fingernägel vorbildlich, die Frisur perfekt, sogar die Augenbrauen hat sie sich tätowieren lassen, dazu einen feinen Kaschmirpullover, schöne Mäntel, Ketten und Ringe.

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Fikret Ceylan (Geb. 1958)

„Türkiyemspor“ ist ein Komet, und er ist dabei

Ein Mann läuft am Spielfeldrand auf und ab. Um ihn herum tobt es. Die Zuschauer jubeln, die Trainer brüllen, die Spieler fluchen. Nur er ist still, kneift die Augen zusammen und taxiert die Spieler, wertet ihre Laufstärke, ihre Technik und ihre Leidenschaft. All das merkt er sich. Legt es ab in seinem unendlichen Fußballspeicher. Notizen macht er sich nie.

Auf gar keinen Fall darf man ihn jetzt stören, so versunken ist er. Wieder und wieder steckt er sich eine Zigarette an, nun hat er schon zwei gleichzeitig brennen. Drei bis vier Schachteln verqualmt er so am Tag. Als er einmal gesünder leben wollte, ist er auf „light“ umgestiegen.

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