Tagesspiegel, 2022

Sie liebte das Tanzen, Gärtnern, Kochen. Hatte viele Freunde, die sie gerne bewirtete. Aber Ella war auch tieftraurig. Wer war die Frau, die sich auf dem Alexanderplatz mit Benzin übergoß?

Ella träumte von einem normalen Leben. Von einem Körper, in dem sie sich wohlfühlen würde. Von einem Mann, den sie lieben könnte und der sie liebte. Kinder vielleicht, die müssten sie dann adoptieren. Und sie wollte einen Ort finden, irgendwo auf dieser Welt, an dem man sie endlich in Ruhe ließ. An dem sie einkaufen oder mit der Bahn fahren konnte, ohne angeglotzt, angemacht oder gar verprügelt zu werden. Denn Ella wurde nie in Ruhe gelassen. Immer war da jemand, der sie nicht akzeptierte, wie sie war, der gar über sie zu bestimmen versuchte.

Ella ist eine Frau aus dem Iran. Sie ist trans, geboren im Körper eines Mannes. Ihr Vater ist streng, ihre Mutter liebevoll, drei jüngere Brüder und eine Schwester, obwohl über die genaue Anzahl an Geschwistern die Erzählungen von Ellas Freunden auseinandergehen. Die Familie ist wohlhabend, der Vater hat mehrere Geschäfte, vermutlich Restaurants. Ella arbeitet im Lebensmittelhandel, hat eine gute Wohnung, ein gutes Gehalt. Sie spricht Arabisch, Persisch und Englisch.

Ob sie schwul sei? Darauf steht im Iran die Todesstrafe

Doch während ihre Geschwister nach und nach heirateten, bleibt Ella allein. Damals heißt sie natürlich noch anders, doch diesen alten Namen, der zu ihrer alten, für sie falschen Identität gehört, soll niemand mehr nennen, das wird später für sie sehr wichtig. Dreimal sucht die Familie eine passende Braut für den vermeintlichen Sohn, plant eine Hochzeit. Ella aber erfindet eine Ausflucht nach der anderen, die Frauen seien zu dick, zu doof, einfach nicht die Richtigen. Der Druck steigt. Sie wird angeschrien, sie wird bedroht, auch körperlich. Ob mit ihr etwas nicht stimme? Ob sie schwul sei? Darauf steht im Iran die Todesstrafe. Auch der Druck in Ella steigt. Wie lange hält sie es noch aus, in diesem falschen Körper? Wann kann sie endlich sie selber sein?

Ella flieht, Europa ist ihr Ziel. Ein Jahr lebt sie in der Türkei, schuftet in einem Steinbruch, arbeitet in der Küche eines Restaurants, schläft auch dort. Wie ein Knecht. Sie lernt Türkisch, bis sie genügend Geld zusammen hat, um die Schmuggler zu bezahlen. Per Boot geht es nach Griechenland. Von dort läuft sie bis nach Deutschland und landet schließlich in Magdeburg, in einer Unterkunft für Geflüchtete. Den Beamten, die über ihren Asylantrag entscheiden, berichtet sie über ihre Notlage als trans Frau im Iran.

Ella findet Freunde. In dem Sprachcafé zum Beispiel, wo sie Deutsch lernt. Erst ist sie einfach nur Gast, schüchtern und zurückhaltend. Dann hilft sie selbst anderen, die noch nicht so gut Deutsch können. Schließlich organisiert sie die Treffen mit. Oder sie geht ins „Regenbogencafé“, ein Ort für queere Menschen in Magdeburg. Hier ist auch Georg, der sie mit zu einer Party ins Schauspielhaus nimmt. Er erinnert sich, wie sie das erste Mal vor ihm steht, äußerlich noch als Mann, mit ihrer braunen Lederjacke, den schütteren, kurzen Haaren, dem Bartschatten. Sie reden und Ella taut nach und nach auf, lacht und erzählt von sich.

Das erste Mal, dass sie sich die Fingernägel lackiert. Das erste Mal, dass sie sie sich die Lippen schminkt. Dass erste Mal, dass sie sich einen Rock anzieht. Eine Perücke aufsetzt, lange schwarze Haare. Zusammen mit Georg fährt sie nach Berlin. Sie gehen ins SO36, eine Party nur für queere Menschen, viele mit Migrationsgeschichte. Ella trägt das erste Mal ein Oberteil für Frauen. Sie tanzen die ganze Nacht. Um sie herum lauter fröhliche Gestalten, die sich, hier jedenfalls, sicher sein können, dass ihnen nichts passiert. Eine Befreiung für ein paar Stunden.

Ella mag Pflanzen. In Magdeburg macht sie bei einem Gartenprojekt mit. Da steht sie dann am Hochbeet und wässert die Tomaten in Minirock und Stöckelschuhen. Mit dieser zunächst ganz äußerlichen Transformation nähert sie sich jener Identität, von der sie überzeugt ist, dass sie die ihre sei. Sie wirkt jetzt entspannt, offen und herzlich. Geld besitzt sie kaum, aber wenn, dann lädt sie ihre Freunde ein. Im „Regenbogencafé“ kocht sie für alle. Setzt sich zu denen, die alleine da sind und noch niemanden kennen. Weil sie inzwischen Deutsch, Englisch, Arabisch, Türkisch und Persisch spricht, übersetzt sie immer wieder für andere Geflüchtete. Bei Partys bleibt Ella bis zum Schluss, um aufzuräumen.

Ella wird angestarrt und bekommt Sprüche an den Kopf geworfen

Ellas Asylantrag wird abgelehnt. Ein Schock. Doch Georg hilft ihr. Sie entdecken in den Unterlagen, dass das Amt ihre gesamte Situation als trans Frau im Iran, den Druck, die Gefahr, nicht berücksichtigt hat. Sie suchen einen Anwalt. Ella verspricht, das Honorar in 50-Euro-Raten abzustottern. Der Anwalt legt Widerspruch ein. Anderthalb Jahre dauert es bis zur Gerichtsverhandlung. Eine Zeit, in der Ella nur geduldet ist, nicht arbeiten darf und immer nervöser wird. Was ist, wenn sie zurück in den Iran muss? In den Nächten vor der Verhandlung kann sie nicht schlafen. Doch es geht gut aus. Das Gericht weist das Bundesamt für Migration an, ihrem Asylantrag stattzugeben.

Jetzt, da Ella sich als Frau kleidet, aber nach wie vor eine männliche Physiognomie, einen Bartschatten hat, wird sie angestarrt und bekommt Sprüche an den Kopf geworfen. Nicht einmal, nicht ein paarmal, sondern andauernd. Der Nachbar beschimpft sie, immer wieder. Einmal schimpft sie zurück. Da holt er eine Holzlatte und droht mit Prügel.

Fünf Jugendliche in der Bahn beleidigen sie, Ella stellt sie zur Rede. Die Kerle greifen sie an. Ella zückt ein Pfefferspray und verjagt sie. So geht es in einem fort. Ella sucht diese Auseinandersetzungen nicht. Immer wieder sagt sie Freunden, die mit ihr unterwegs sind, dass sie ruhig bleiben sollen, dass es nichts bringt, auf jede Anfeindung zu reagieren. Doch einschüchtern lässt sie sich nicht, verstecken will sie sich auch nicht.

In Berlin will sie glücklich sein

Magdeburg wird ihr zu eng. In Berlin will sie glücklich sein. 2019 zieht sie um, kommt bei Georg unter, der nun ebenfalls in der Stadt wohnt. Arbeit findet sie in einem jüdischen Restaurant, erst als Kellnerin, dann in der Küche. Das Restaurant hat jüdische Besitzer, und Ella interessiert sich für die Kabbala, die mystische Tradition des Judentums. Sie findet es gut, dass der Staat Israel wehrhaft ist und sich nicht einschüchtern lässt. Viele der Anfeindungen, die sie erlebt, gehen von Menschen mit arabischen Wurzeln aus. Es ist eine schwierige Gemengelage.

Jetzt, da sie eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung hat, kann sie auch den Prozess der körperlichen Geschlechtsangleichung beginnen. Dazu muss sie eine Psychotherapie machen, muss sich Tests unterziehen und eine Hormonbehandlung beginnen. Und jetzt ist da jemand, der ihr zur Seite steht, Bettina, die sich ihre Sorgen und ihre Träume anhört, die sie zu den Ärzten begleitet, mit der sie sich über permanente Enthaarung und Körbchengrößen unterhält. Ganz normal soll ihr Körper werden, keine Extravaganzen, keine Riesenbrüste. Zusammen tanzen sie zu dem Lied „Ella, elle l’a“, Ellas Lieblingslied.

Wieder lernt Ella neue Menschen kennen. Mit ihrer Nachbarin freundet sie sich an, Ella kocht für sie und passt auf ihr Kind auf. Ihr bester Freund hilft ihr mit den Papieren und Anträgen. Über das Arbeitsamt macht sie eine Weiterbildung, die sie befähigen soll, im neuen Werk von Tesla zu arbeiten. Das Zeugnis ist das erste Dokument, das ihren Frauennamen trägt.

Warum sie es getan hat?

Irgendwann, wie aus dem Nichts, sagt sie, dass bei ihrer Beerdigung getanzt werden soll. Dann schenkt sie der Nachbarin ihr Tablet. Ihren Freunden sagt sie, dass sie für ein paar Tage nicht erreichbar sein wird.

Warum sie es getan hat? Warum dieser brutale, öffentliche Suizid? Auf dem Alexanderplatz hat sie sich angezündet, mitten an einem Tag im September. Ihre Freunde haben Vermutungen. Eine zu tiefe Traurigkeit über all das, was ihr zugestoßen ist. Ein letzter Akt der Selbstermächtigung.

Zu ihrer Beerdigung kommen die vielen Menschen, die Ella etwas bedeutet haben. Sie spielen ihr Lieblingslied. Sie tanzen und sie weinen.

Text: Karl Grünberg, erschienen im Tagesspiegel, Januar 2022