Dialog Magazin und Publik Forum, 2022 / ©-Foto: Thomas Aurin

„Aufbruch“ heißt das Gefängnistheater. Kein pädagogisches Projekt, sondern ein richtiges Theater, das den Gefangenen alles abverlangt. Dafür bekommen sie die Chance, jemand anderes zu sein, für einen Moment. Eine Reportage von Karl Grünberg.

Die, die drinnen sind, bleiben es auch. Jahrelang, Jahrzehntelang. Manche für wahrscheinlich den Rest ihres Lebens. Dafür sorgen Mauern mit Stacheldraht, schwere Eisentüren, Kameras, Wärterinnen und Wärter. Dafür sorgten sie selber, in dem sie taten, was sie taten. Dann gibt es die, die von außen kommen, die Besucher*innen. Das sind die, die auch wieder gehen können, denn für sie öffnen sich die Tore, zurück in die Welt da draußen. Das ist der große Unterschied.

Manchmal aber bringen die, die von außen kommen, etwas mit. Theater zum Beispiel: Ödipus, Fidelio, der Sturm, Parsifal. Dann vermischen sich die beiden Welten, drinnen und draußen, die Mauern lösen sich auf, im Kopf zumindest. Für einen kurzen Zeit scheint alles möglich, wenn die Häftlinge in die Rolle griechischer Könige, von Sagengestalten oder Arbeiterführern schlüpfen, wenn sie alles vergessen und nur der Moment zählt.

Justizvollzugsanstalt Tegel, eines der größten und ältesten Gefängnisse Deutschlands, 867 Haftplätze, 13 Wachtürme, eine 1465 Meter lange Außenmauer. Es ist Dienstag, Ende September, 15.30 Uhr. Die Theaterleute stehen vor Tor 2, vier Männer, eine Frau. Ihre Handys, Schlüssel und Rucksäcke haben sie in Schließfächern verstaut. Es summt, das Einlasstor öffnet sich. Dahinter liegt ein kleiner Hof, von Mauern umgeben, dann noch ein Tor, hier müssen sie durch, dahinter warten die Justizbeamte. Ausweise abgeben, Corona-Impfnachweis vorweisen, sich mit einem Metalldetektor scannen lassen.

Die fünf Theaterleute wirken entspannt, scherzen mit den Beamten, nehmen die beklemmenden Atmosphäre längst nicht mehr wahr. Gefängnis? Für sie ist all das Alltag. 25 Jahre gibt es das Gefangenen-Theater „Aufbruch“ schon. Ob mit Jugendlichen, mit Frauen oder mit Männern – sie arbeiten in den verschiedenen Haftanstalten von Berlin, seit 18 Jahren auch in der JVA Tegel. Da ist der Mann, der für den Bau der Bühne zuständig ist, ein anderer für das Licht, da ist der musikalische Leiter, die Produktionsverantwortliche, der Regieassistent und Peter Atanassow, der Regisseur.

Konzentriert wirkt der Regisseur jetzt, auch ein bisschen angespannt. In den nächsten fünf Stunden wird er eine Menge Energie brauche, mit denen er die Häftlinge in Schauspieler verwandelt. Die Jungs, so nennt er sie, wenn er von ihnen spricht. Vier Wochen haben sie noch, dann ist Premiere, dann kommen die Zuschauer*innen, die Presse, die Kritiker*innen. Dann muss jedes Lied, jeder Text, jede Choreographie sitzen.

Es ist 16 Uhr. Ein Wärter bringt die Häftlinge in den stillgelegten Zellentrakt, den sie für die Theaterarbeiten nutzen können. Es sind elf Männer. Völlig normal gekleidet. Wie eine bunte Berliner Mischung, die eben aus der U-Bahn gestiegen ist. Da ist Chris Templiner, den sie aber nur „den Bär“ nennen. Kurze Haare, Brille, 55 Jahre alt, zwei Bücher hat er geschrieben und auf Amazon veröffentlicht. Seit 38 Jahren ist er im Gefängnis. Er würde gerne noch ein bisschen was von der Welt da draußen sehen. „Es gibt niemanden, der mir vergeben kann, was ich getan habe. Aber ich war jetzt mehr als lang genug hier drin“, sagt er. Da ist Kurt, weißes, schütteres Haar, weißer Bart. Er ist der älteste von ihnen und braucht einen Rollator. Da ist Peter Maier, eine Glatze hat er, eine volle Stimme, mit der er seine Worte so exakt betont, als ob er direkt von einer Opernbühne gestolpert wäre. Adrian Zajac wiederum ist Mitte 30, Brille, stylisch rasierter Bart, ebenfalls eine Glatze. Zur Premiere wird seine Familie kommen, da will er alles richtig machen. „Ich habe ja bisher in meinem Leben nicht viel richtig gemacht“, sagt er. Auch er wird noch viele Jahre hier sein. Da ist noch Apo, der immer Witze zu machen scheint, ob nun gerade passend oder unpassend. Da ist Hüdayi, der kaum ein Wort deutsch spricht, dafür ein türkisches Gefängnislied so traurig singen kann, dass man fast weinen möchte.

Was diese elf Männer nun getan haben, ob sie Betrüger sind, Drogenhändler, Totschläger oder Vergewaltiger, ob sie einen deutschen, türkischen, arabischen oder russischen Hintergrund haben, ist völlig egal. „Wir lesen ihre Akten nicht, wir fragen sie nicht nach ihren Taten. All das spielt keine Rolle. Sie müssen spielen wollen, sie müssen sich einlassen wollen und bereit sein, aus sich herauszugehen. Darum geht es“, sagt Peter Atanassow, der Regisseur.

Los geht es im Stern. Da ist ein runder großer, hoher Raum, der sich bis in die dritte Etage erstreckt, strahlenförmig gehen hier die Gänge ab, alle paar Meter eine Zellentür, dahinter ein kleiner Raum, 5 Quadratmeter, ein Bett, ein Tisch, ein Klo und ein Waschbecken. Aufwärmübung. „Bababa“, macht Peter vor. „Bababa“, machen die elf Männern nach. Sie schwingen die Arme, sie machen Babygeräusche, sie brüllen und flüstern. Ein bisschen ahnt man jetzt schon, was für einen machtvollen Sog diese Männer, diese Kulisse und ein Theaterstück entwickeln kann.

Jetzt erklärt Peter, was sie heute üben werden, warum eine Szene gestrichen wurde, dass bald die Kostüme kommen. „Kollegen“, so spricht er sie an. „Kollegen, ein bisschen mehr Konzentration bitte.“ Oder: „Das war wirklich gut, Kollegen.“ Das ist wichtig. Begegnung auf Augenhöhe. Hier wird Theater gespielt. Nur darum geht es. Vordergründig. „Ich könnte ihnen nicht als Sozialarbeiter oder als Pädagoge kommen, das würden sie sofort durchschauen“, sagt Peter.

Szeneprobe, Trakt A, die Bühnenbretter haben sie einfach über den Gang auf die Geländer der zweiten Etage gelegt. „Wir müssen improvisieren und die Bühne so bauen, wie es die Gegebenheiten verlangen“, erklärt Peter. Das Theaterstück wird über mehrere Räume gespielt werden, die Zuschauer laufen vom Trakt A über den Stern in den Trakt B. Heute ist eine Szene dran, in der sich die Bewohner der Stadt Theben darüber aufregen, dass Fremde die Seuche in die Stadt bringen würden. „Kollegen“, ruft Peter. „Das muss kräftiger sein, ihr seid jetzt die Populisten, die gegen die Fremden hetzen.“ Noch brauchen die Jungs ihre Manuskripte. Nur Adrian nicht. Er hat schon geübt und so viel auswendig gelernt, wie er in seinen Kopf hineinbekam. „Ich muss ins kalte Wasser springen“, sagt er.

Jeder von ihnen hat seine eigene Körpersprache, seine eigene Art zu sprechen, seinen eigenen Akzent, mit der sie versuchen, der etwas steifen Theatersprache und ihrer ungewohnten Wort- Reihenfolge Herr zu werden. Der eine breitbeinig und lässig, der andere steif und in sich gekehrt. Es scheint, als ob die Rollen genau zu ihren Eigenarten passen würden. „Ihr Leben hat auch ihren Körper gezeichnet und damit arbeite ich“, sagt Peter. Gleichzeitig ist er sehr genau, korrigiert hier, lässt da nicht locker. Auch das gehört dazu. Er verlangt alles von ihnen, muss aber gleichzeitig aufpassen, es nicht zu übertreiben, damit seine Anforderungen nicht in Frust und dieser Frust zur Aufgabe umschwingt.

Pause. Sie trinken Kaffee, sie rauchen selbstgedrehte Zigaretten, an einem Tisch üben zwei noch einen Dialog für die nächste Szene, an einem anderen wird gelacht. Warum sie hier mitmachen? „Es ist etwas anderes als der Alltag“, sagt der eine. „Wenn Aufführung ist, dann vergisst man, dass man im Gefängnis ist, dann zählt nur noch der Moment“, sagt der andere. „Weil man sich endlich ein bisschen lebendig fühlt“, sagt wieder ein anderer. Dann berichten sie, wie bei der letzten Aufführung, der Beethoven Oper Fidelio sogar das Orchester der Philharmoniker sie begleitet hat. An der Wand hängen die Rezensionen der FAZ, das Fernsehen hat es übertragen. Es ist leicht, sich über ihre Begeisterung zu freuen. Doch in diesem Moment stellt sich auch die Frage, wie es den Angehörigen der Opfer ergeht, wenn sie sehen, dass dieser oder jener jetzt sogar im Fernsehen auftritt. Ist das nicht zu viel Aufmerksamkeit? Geht es wieder einmal nur um die Täter?

Das kann Peter nicht beantworten. Er weiß aber, dass es die Jungs auf gewisse Art und Weise weiterbringt: „Wenn man bei so einem Theaterstück mitmacht, die Routine, die Konditionierung aushält, das stundenlange, tagelange Üben, dass man dabei von mir korrigiert und kritisiert wird. Wenn man es dabei aushält mit 15, 20 Leuten mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, mit den verschiedensten Charakteren, dann ist das eine Leistung.“  Es gab 2016 eine wissenschaftliche Untersuchung, die bestätigte, dass das Theater eine Menge wichtiger Kompetenzen stärken würde, die man brauche, um sich straffrei in der Gesellschaft aufhalten zu können. Ein Aufbruch also?

20.30 Uhr. Die Proben sind vorüber. Sie haben gesungen, geflüstert, gebrüllt und geflucht. Sie waren Ödipus, Kreon und Bürger einer antiken Stadt. Jetzt führt der Wärter sie wieder nach draußen. Jeder kehrt in sein Haus, in seine Zelle, in seine Gedanken zurück. Stille kehrt ein. Bis zum nächsten Tag.