Abschied. Leben mit dem Tod. Das Magazin.

Wie soll man sich von einem Sterbenden verabschieden? Wie den geliebten Menschen in den Tod begleiten? Da ist die Tochter, die ihrer Mutter bis zum letzten Atemzug zur Seite stand. Da ist das RICAM-HOSPIZ, das den Abschied so angenehm wie möglich gestalten möchte. Beispiele, die zeigen, wie es gehen kann.

Die letzten Wochen, Tage und Stunden waren die anstrengendsten ihres Lebens, doch gleichzeitig waren sie auch ein Geschenk, sagt Johanna später. Sie waren eine Möglichkeit, ihrer Mutter nahe zu sein und ihr auch etwas zurückzugeben.

Gertrud – so hieß ihre Mutter. Sie nahmen Gertrud aus dem Pflegeheim heraus. Die letzte Station ihres Lebens sollte sie im Kreis der Familie verbringen. Erst einmal aber blühte Gertrud  auf: Sie buk Hefezopf für die Familie, die Nachbarn, die Pfleger. Mit einem von ihnen fuhr sie für ein paar Tage an die Ostsee. Das hatte sie sich gewünscht. Mit dem Rolli durch den Sand bis direkt ans Meer ran, die Weite sehen, den Wind im Gesicht spüren. Ein letztes Mal Eis essen, ein letztes Mal ins Freiluftkino gehen. Zurück in Berlin spürte Gertrud in sich hinein, „mein Körper ist kaputt, ich habe genug“, sagte sie zu ihrer Tochter. Gertrud hatte sich entschieden, dass es nun für sie Zeit war, Zeit zu sterben und von ihrem Leben Abschied zu nehmen.

13-alte-hand
Was heißt es, einen geliebten Menschen in den Tod zu begleiten?

Für Johanna bedeutete es, ihre Mutter einerseits gehen zu lassen und sie andererseits in den Tod zu begleiten. Abschied nehmen. Wie geht das überhaupt? Wie soll man die richtigen Worte finden? Was soll man noch machen oder tun? Das sind Fragen, auf die es keine allgemeingültigen Antworten gibt. Schließlich geht es um den Tod, und der ist bei jedem und in jeder Familie anders. Doch es gibt Erfahrungen von Menschen, die sich mit diesem Thema schon lange auseinandergesetzt haben.

Abschied im Hospiz

Der Fahrstuhl fährt hoch hinauf, bis in den 5. Stock, an einen Ort, der dem Himmel ein Stück näher scheint. Hier oben, lichtdurchflutet, sonnengeblendet, die Wolken zum Greifen nah, hat das Ricam-Hospiz in Neukölln seine Bleibe. Ein langer heller Gang, Glasfassade, Dachgarten, Türen zu Räumen, auf denen Namen stehen. Herr, Frau, Herr, Frau. Es sind Namen von Menschen, die bald sterben werden. Das Hospiz ist ein Ort des Lebens, des Abschiednehmens und des Sterbens. Ein Ort, an dem diese letzte Zeit reich an Lebensqualität sein soll.  Einer, der seit Anbeginn dabei ist, der seit 1999 viele Abschiede miterlebt hat, ist Johannes Schlachter. Er arbeitet hier als Pflegedienstleiter. Der 57-Jährige ist ein ruhiger, sanfter Mensch. Einer, dem man unbedingt glaubt, wenn er sagt, dass er Menschen auch in den Arm nimmt, der die richtigen Worte oder auch das richtige Schweigen findet.

Die kleinen Gesten zählen  

Abschied, Reportage Karl Grünberg
Letzte Erinnerungen aufschreiben, auch das kann ein Abschied sein.

„Keine Hektik, kein Aktionismus, sondern Achtsamkeit, das ist das wichtigste im Umgang mit einem bald Sterbenden“, rät er Angehörigen für die letzten Momente. Achtsamkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, den Stress des Alltags draußen zu lassen und Zeit mitzubringen, um sich auf die Situation einzustellen. Es heißt aber auch, die Stille, das Unangenehme auszuhalten und dazubleiben, auch wenn es schmerzt. Ob man seinen Vater, seine Mutter, seine Oma oder seinen Opa in den Arm nimmt, die Hand hält, mit ihnen redet oder auch schweigt, dabei soll man sich von seiner Intuition leiten lassen. Was passt, das passt. „Oft ist weniger mehr. Man muss nicht mehr viel nach Wünschen fragen oder ob jemand noch dies oder jenes braucht. Sich auf Kleinigkeiten konzentrieren, das tut’s oft auch“, sagt Schlachter. Man kann die Lieblingsblume mitbringen, ein Lieblings- oder Kinderlied singen, von gemeinsamen Erinnerungen, Reisen oder Abenteuern sprechen.

Versöhnung

Abschied im Ricam Hospiz
Als ein Ritual erinnern Papiersterne im Ricam Hospiz in einer Gedenkecke an die Verstorbenen. Ricam Hospiz, (C) Cathrin Bach – Konzept und Bild.

„Es gibt kein Patentrezept für den letzten Abschied“, sagt Schlachter. „Jeder Mensch ist anders und so wie er gelebt hat, stirbt er auch. Jemand, der still war, wird nicht plötzlich zu einer Plaudertasche. Jemand, der verbittert oder traurig, nichts mehr von seinen Angehörigen wissen mochte, wird nicht plötzlich anders auf sein Leben schauen.“ Dennoch gibt es gerade im Hospiz Momente der letzten Aussöhnung und Begegnung. Da sind Gäste, die ihren Kindern partout nicht Bescheid sagen wollen, dass sie im Hospiz sind und dass sie bald sterben werden. Mit diesen Menschen reden die Pfleger und Sterbebegleiter, fragen nach dem Grund und ob dieser Grund auch im Angesicht des Todes noch Bestand hat. Ob es nicht schön wäre, jetzt noch einmal Kontakt aufzunehmen. „Viele stimmen doch noch zu“, sagt Schlachter. Manchmal kommt es dann zur Versöhnungen mit den Kindern, den Geschwistern oder auch den Freunden. Das sind Begegnungen, bei denen gar nicht viel mehr gesagt werden muss. Die Menschen schauen sich in die Augen und der Groll ist überwunden. Manchmal gibt es Aussprachen, die auch gut tun. Aber manchmal klappt es auch nicht. Dann ist es eine letzte Begegnung.

Abschiednehmen

Firenz Baradari, Patient im Ricam Hospiz und Mitarbeiterin Cornelia Kaiser .
Zeit verbringen. Patient im Ricam Hospiz und Mitarbeiterin. Foto: Ricam Hospiz, (C) Cathrin Bach – Konzept und Bild. 

Matthias Passon, Palliativarzt in Köpenick, besucht die Sterbenskranken zuhause. Er hat gelernt, auf die Anzeichen zu achten, die einen baldigen Tod ankündigen. Wenn sich jemand zurückzieht, kaum noch reagiert oder sehr abwesend wirkt zum Beispiel. Andere sprechen von Reisen, von Koffern oder von Schuhen, wie als wenn der Aufbruch kurz bevor steht. Auch plötzliches Krampfen oder Atemaussetzer können anzeigen, dass es bald soweit ist. Oft verabschieden sich die Patienten auch bei ihm, ohne es direkt anzusprechen.

„Das ist ein bestimmter Händedruck, ein Blick, eine Verabschiedung. Dann horche ich auf und weiß, dass es bald soweit ist“, sagt Matthias Passon. Ob Zuhause, im Pflegeheim oder im Hospiz – viele Angehörigen versuchen beim letzten Moment dabei zu sein, die Hand zu halten, denjenigen nicht alleine zu lassen. Das hilft dem Sterbenden und den Angehörigen, die so den Tod, den letzten Abschied miterleben. Doch Johannes Schlachter aus dem Ricam-Hospiz mahnt, nicht zu viel davon abhängig zu machen oder gar ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn es nicht sein sollte. Ebenso wichtig sei es, die Chance zu nutzen und sich vom Verstorbenen zu verabschieden, während der Körper noch da ist.

Das rät auch die Anlaufstelle für Trauernde der Berliner Malteser. „Wenn jemand verstorben ist, Zuhause oder im Hospiz, kann es sehr heilsam sein, noch zu bleiben und sich daneben zu setzen. Das stellt Nähe her, das macht den Tod begreifbarer, so kann man sich langsam und behutsam verabschieden“, sagt Antje Hering von den Maltesern. In Berlin darf der Verstorbene bis zu 36 Stunden zuhause bleiben. Man kann ihn sogar aus dem Krankenhaus oder dem Pflegeheim von dem Beerdigungsinstitut nach Hause bringen lassen, um dort würdig Abschied zu nehmen.

Wenn man bei dem Verstorbenen ist, kann man eine Kerze anzünden, zu ihm sprechen oder ein Lied singen. Man kann die Hand halten, die Haare kämmen oder den Verstorbenen anziehen. Im Ricam-Hospiz wird ein gelber Papierstern an die Tür gehängt und eine angezündete Kerze darunter gestellt. Wenn der Körper nach dem Abschied abgeholt wurde, wird der Stern aufgehoben, mit dem Namen des Verstorbenen beschriftet und in eine Vitrine gelegt, zusammen mit den vielen anderen Sternen.

Gertruds letzter Weg 

Abschied nehmen Karl Grünberg Reportage
Wer geht, hinterlässt eine Leere.

Als Gertrud ihre letzte Stunde hatte, lag sie in den Armen ihrer Tochter Johanna. Diese befeuchtete immer wieder ihren Mund, weil Gertrud in den letzten Tagen nichts mehr trinken und essen wollte. Immer wieder beschwichtigte die Tochter ihre Mutter, die sehr unruhig wurde und sich aufbäumte. Dann erzählte sie ihr eine Geschichte: „Bald hast du es geschafft. Und wenn du erst einmal im Himmel bist, wirst du wieder rennen können.“ Dann sang sie ihr vor: Kinderlieder, Schlaflieder: Guten Abend, gute Nacht. Plötzlich war es still. Gertrud atmete noch einmal tief ein und wieder aus und starb. „Es war, als wenn ihre Seele mit ihrem letzten Atemzug den Raum verlässt“, sagt Johanna. Abschied nehmen Karl Grünberg Reportage IDieser Abschied, dieser letzte Moment, war ihr nach diesen Tagen und Wochen des Ringens mit dem Tod sehr wichtig. Es war traurig, dass Gertrud gestorben war. Es war aber auch gut.

Text: Karl Grünberg, erschienen in: Abschied.