Tagesspiegel / Dialog-Magazin, 2020

Die Nazi-Tattoos hat Maik Scheffler übermalen lassen, alte Freunde wurden zu Feinden. Seine Schuld lässt er nicht leicht zurück.

Er war ein Anführer. Ein Anruf und sie waren da. Seine Kameraden, seine kleine Armee, „mein Fußvolk“, wie er sagt. Demonstrieren, Plakate kleben, Stunk machen, den politischen Gegner einschüchtern. Nein, Maik Scheffler war kein kleiner Nazi vom Dorf.

Er war eine große Nummer, in Sachsen und darüber hinaus. Er ging nicht auf Demonstrationen, er organisierte sie. Er besuchte keine Skinheadkonzerte, er plante sie. Er bestellte keine rechtsradikalen CDs oder T-Shirts, er stellte sie selber her und versandte sie. Er ging in keine Neonazi-Szenekneipen, er betrieb selber eine. Wenn er hinter dem Mikrofon und auf der Bühne stand, brüllte er und nannte seine Gegner „Untermenschen“ oder „Minus-Seele“.

„Und ich meinte jedes Wort genau so“, sagt er heute. 17, 18 Jahre lang war die Neonaziszene sein Beruf, sein Leben. Heute ist Maik Scheffler 46 Jahre alt und hat eine 180-Grad-Wende hinter sich. Er hat sich losgesagt, ist ausgestiegen. Es war ein harter langer Weg, für den er eine Menge Mut brauchte. Mut, sich den eigenen Abgründen zu stellen und sich mit denjenigen auseinandersetzen, die er früher bekämpft hatte. Heute sagt er: „Ich sehe mich als Teil dieser demokratischen Gesellschaft.“

Ich will verhindern, dass andere so werden wie ich

Maik Scheffler

Und als dieser redet er vor Schülern, berichtet ihnen über seine „gescheiterten Jahre“, über den Sog der Neonazi-Szene, über die Ideologie, die sich wie ein Filter über alles legt. Er geht an Polizeischulen und erklärt dort, wie die Szene und wie Extremismus funktioniert. „Ich will verhindern, dass andere so werden wie ich“, sagt er. Heute ist Maik Scheffler einer der bekanntesten Neonazi-Aussteiger Deutschlands. Dies ist die Geschichte einer Umkehr.

Doch wie geht das? Eben noch ein fanatischer Nazi, die Überzeugung in die Haut tätowiert. „Landser“ steht auf dem Rücken, „HF“ und darunter zwei gekreuzte Hammer auf der Brust. Das steht für: Hammerskins forever. Ein Zeichen, das sich nur Mitglieder dieses militant-rechten und straff organisierten Geheimbundes stechen lassen dürfen. Und plötzlich spielt das alles keine Rolle mehr? Wie verläuft so ein Ausstieg? Wie ehrlich ist so ein Ausstieg? Was macht man mit der Schuld, die man in den Jahren und Jahrzehnten auf sich geladen hat?

Da gibt es die vielen Situationen, die Maik Scheffler nicht mehr loslassen. Um die Jahrtausendwende sitzen er und seine Kumpel in der Küche. Trinken und rauchen. Es ist die Wohnung der Mutter von einem von ihnen. Die Mutter kommt rein, zum dritten, zum vierten Mal. Habe gesagt, dass sie das nicht möchte, dass die Gruppe gehen soll. Da nimmt sich ihr Sohn eine Schere vom Küchentisch, die Mutter hebt ihre Hand in einer Abwehrbewegung, der Sohn rammt ihr die Schere in den Arm.

Videos, auf denen Menschen die Köpfe abgehackt werden

„Alle haben nur gelacht“, erinnert sich Maik Scheffler. Später haben sie sich diese Geschichte auf Partys immer wieder erzählt. „Und trotzdem war dieser Sohn ein Kamerad, für den ich alles gegeben hätte, auch mein Leben.“

Andere hätten sich auf Partys immer wieder Videos angeschaut, auf denen Menschen die Köpfe abgehackt werden, haben darüber gelacht und den Arm zum Hitlergruß gehoben. „Ich war verroht und habe mich mit Leuten umgeben, die sich asozial verhalten haben. Ich habe mich später dann wegen solcher Sachen vor mir selbst geekelt.“

Später dann. Als er ein Aussteiger wurde. Raus aus der NPD. Raus aus der Szene. Schluss mit den Hammerskins und den Kameradschaften.

Für ein Treffen hat Maik Scheffler eine Kleinstadt in Sachsen vorgeschlagen. Hier arbeitet er bei einem Verein für Jugendbildung. „Sie haben mir eine zweite Chance gegeben, dafür bin ich unendlich dankbar“, sagt er.

Wo er wohnt, muss geheim bleiben

Ein paar kleinere Städte weiter wohnt er, pflegt seine Mutter. Sie und seine zwei kleinen Töchter, die er an jedem zweiten Wochenende betreut, sind auch der Grund, warum er Sachsen nicht verlassen hat. Die genauen Orte sollen nicht genannt werden, aus Sicherheitsgründen. Aussteiger werden von der rechten Szene bekämpft.

Scheffler ist ein Hüne, seine Muskeln zeichnen sich unter seinem Hemd ab. Sein Bart ist gestutzt, gepflegt, grau. Wegen dieses Barts saß er eines Tages bei einem Friseur, einem Kurden. Maik Scheffler war gerade dabei, sich aus der Szene zu lösen, wusste nicht mehr, wohin er gehörte. Sie diskutierten, sagt er, sie redeten. Dann beichtete er dem Friseur, wer er war und wofür sein Name stand. Dennoch wurden sie Freunde.

Genau darum geht es bei einem Ausstieg. Es braucht kleine Risse im Schutzschild der Ideologie. Dieser Schutzschild filtert Informationen, Erlebnisse und jegliche Handlungen und lässt nur durch, was in diese eigene Ideologie passt. Hat dieser Schutzschild jedoch einen Riss bekommen, kann das der Anfang vom Ausstieg sein.

So beschreibt es Fabian Wichmann. Kurze Haare, selbst gedrehte Zigaretten, Wichmann hat es drauf, so gut zuzuhören, dass man selber einfach immer weiterredet. Wichmann ist Erziehungswissenschaftler und arbeitet für „Exit“. Das ist die größte, bekannteste Aussteiger-Organisation Deutschlands. Circa 750 Ausstiege aus der rechtsextremen Szene hat der Verein in den letzten 20 Jahren begleitet. Manche von ihnen still und heimlich. Andere mit Öffentlichkeit, mit Fernsehauftritten oder Interviews.

Wichmann hat auch Maik Scheffler unterstützt. Er hat mit ihm diskutiert, hat ihn mit seinen Weltbildern konfrontiert, hat ihn seinen ehemaligen Gegnern begegnen lassen: linken Jugendlichen, einem Imam, der Polizei. All das, damit Risse den Schutzschild zerstören.

Maik Scheffler hatte seinen ersten Riss im Winter 2013/14. Zu diesem Zeitpunkt ist er oben angekommen, hat ein Netzwerk von Kameradschaften aufgebaut, ist auch stellvertretender Landesvorsitzender der NPD in Sachsen, sein Geld verdient er als Mitarbeiter der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag.

Doch die Fraktion fliegt auseinander, der Fraktionsvorsitzende Holger Apfel tritt zurück, ein Machtkampf um die frei werdenden Posten entbrennt. Und mittendrin Maik Scheffler, der plötzlich Intrigen ausgesetzt ist, einem politischen Ränkespiel, das er so noch nicht kannte. „Ich war menschlich enttäuscht“, sagt Scheffler. Es dauerte ein Jahr, aber nach und nach zog er sich aus der Partei zurück. Er war immer noch Neonazi, aber nicht mehr für die NPD.

Maik Scheffler braucht damals Arbeit. Ein Freund vermittelt ihn in die Erwachsenenbildung. Die Ausbildung dazu hat er an der Fernuni gemacht, bezahlt vom sächsischen Landtag, jeder Fraktion steht Geld für Fortbildungen zu. Scheffler arbeitete nun als Deutschlehrer für Arbeitslose oder gab Anti-Mobbing-Trainings. Zwei Mal flog er auf und verlor den Job wieder, man enttarnte ihn. Auf der dritten Schule schaute man nicht so genau hin und übergab ihm die Deutschkurse für Ausländer. Da stand er also, Maik Scheffler, der Neonazi, vor einer Klasse von Syrern, denen er das deutsche ABC beibringen sollte.

„Das war ein Schock“, sagt er heute. Von Angesicht zu Angesicht mit dem Feind, zum ersten Mal. Nur war der Feind gar nicht mehr so, wie er sich das vorgestellt hatte. Ein ums andere Mal luden ihn Kursteilnehmer zu sich nach Hause ein, bis er eines Tages zusagte.

„Da saß ich also mit meiner Freundin in einer kleinen Wohnung, in der sie zu viert wohnten. Der Tisch bog sich, so viel Essen hatten sie aufgetan. Und sie waren so freundlich. Begrüßten uns noch vor der Haustür, winkten zum Abschied“, sagt Scheffler.

Er weiß, dass das naiv klingt, aber für ihn war diese Freundlichkeit ein Augenöffner. Gleichzeitig wurde der Kontrast zu seinem alten Leben immer größer. Tagsüber der Deutschlehrer für Syrer in der einen sächsischen Stadt. Abends der Nazi in der anderen.

Ich habe meinen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen

Maik Scheffler

„Das ging nicht mehr“, sagt Scheffler. „Ich wurde richtig depressiv. Konnte nicht mehr schlafen. Ich habe meinen Anblick im Spiegel nicht mehr ertragen. Wollte mich offenbaren. Wer ich bin, was ich denke oder dachte. Alles, was ich vorher war, war ins Wanken geraten.“ Jetzt kam Exit ins Spiel. Maik Scheffler meldete sich. Er wolle sein Leben ändern, er brauche dabei aber Hilfe.

Doch woher wissen Ausstiegs-Organisationen, wann es jemand ehrlich meint? „Der Weg mit Exit ist kein einfacher“, sagt Fabian Wichmann. Er merke relativ schnell, ob jemand eventuell nur kostenlos die Hakenkreuz-Tätowierung entfernt haben möchte. Ob jemand wirklich mit der Ideologie bricht oder sich nur ein ruhigeres Leben wünscht.

Tagebücher schreiben, Bilder malen. Das soll helfen

Sie treffen die Aussteiger regelmäßig, einmal die Woche, einmal im Monat, je nachdem. Dabei wird über die alten Weltbilder gesprochen, über die eigene Rolle in der Szene. Die Aussteiger sollen autobiografisch arbeiten, Tagebücher schreiben, Bilder malen und sich immer wieder mit ihren Gefühlen, auch Ängsten oder auch den eigenen Eltern auseinandersetzen.

„Das ist ein langer Prozess“, sagt Fabian Wichmann. „Immer wieder muss man sich der Frage stellen, warum man so viele Jahre seines Lebens falschlag. Das nimmt man nicht auf sich, wenn man es nicht ehrlich meint.“

Diesen Weg geht Maik Scheffler. Er trifft sich mit einem Imam. Er geht in linke Jugendclubs und hört zu, wie es ist, von Neonazis tyrannisiert und verprügelt zu werden. Er besucht den Friseurladen, lernt dort den kurdischen Friseur kennen. Sagt ihm, wer er war. Maik, der Neonazi. Der Friseur erwidert, dass es nichts macht, wer er war. Wichtiger sei, wer er jetzt ist. All das verändert Scheffler. Begegnung für Begegnung.

Er erklärt öffentlich seinen Ausstieg und hat von jetzt auf gleich keinen einzigen Freund mehr, denn die rechte Szene kennt keine Aussteiger. Jetzt ist er der Feind. Gerüchte kursieren: Er soll schon als Jugendlicher eingeschleust worden sein. Für den Verfassungsschutz arbeiten. Er habe geklaut. Sei schwul. Habe mit einer schwarzen Frau ein Kind. Er sei kein Mensch. Ein Lump. Schon immer gewesen.

Mehrfach wird ihm gedroht, im Internet, aber auch von Angesicht zu Angesicht. Er geht kaum noch auf Volksfeste, und wenn doch, verlässt er diese, bevor es dunkel wird. Er beobachtet seine Umgebung, hat im Hinterkopf, dass man ihm auflauern könnte. Spricht er öffentlich, werden Schutzmaßnahmen ergriffen, gibt es ein Sicherheitskonzept, und er hat immer mindestens einen Begleiter dabei.

Ich sage gleich am Anfang, dass ich überhaupt nichts Cooles an mir habe

Maik Scheffler

Auf einer dieser Schulveranstaltungen steht ein Schüler auf, 13 Jahre alt vielleicht, und sagt zu Maik Scheffler: „Dann wissen Sie ja jetzt, wie es Ihren damaligen Gegnern ergangen ist.“ An Polizeischulen, sagt Maik Scheffler, finden die Schüler ihn eher cool. Ein harter Kerl mit einer spannenden Vergangenheit, ein Held irgendwie. „Doch ich sage gleich am Anfang, dass ich überhaupt nichts Cooles an mir habe. Dass ich kein Held bin. Im Gegenteil, dass ich für die Möglichkeit stehe, im Leben zu versagen.“

Es gibt andere Aussteiger-Wege. Wichmann von Exit betreute Fälle, in denen Familien mit Kindern regelrecht abgetaucht sind. Neuer Name, neue Rentennummern, alles neu. Sodass niemand mehr irgendwelche Rückschlüsse ziehen kann. „Das ist besonders schwierig: Kindern eine neue Lebensgeschichte und sogar neue Rufnamen zu vermitteln, das dauert.“ Manchmal reiche es auch aus, in eine andere Stadt zu wechseln, sich Stück für Stück zurückzuziehen.

Maik Scheffler muss sich aber auch gefallen lassen, dass es Menschen gibt, die ihm sagen, dass sie ihm nicht verzeihen können. Andrea Hübler arbeitet in der Beratung für Betroffene rechts motivierter und rassistischer Gewalt in Leipzig. Sie weiß, dass viele Opfer rechtsradikaler Gewalt auch nach Jahren immer noch traumatisiert sind.

Die 90er Jahre, die 2000er Jahre waren brutale Jahre

Andrea Hübler

„Die 90er Jahre, die 2000er Jahre waren brutale Jahre, in denen es in Sachsen organisierte Hetzjagden mit dem Auto, die schwersten Körperverletzungen und sogar Tötungsdelikte gab, gegen linke Jugendliche, Obdachlose und Menschen mit Migrationshintergrund.“ In den 17 Jahren, in denen Maik Scheffler als Neonazi aktiv war, gab es laut der Amadeu-Antonio-Stiftung in Sachsen elf Tötungsdelikte mit rechtsextremem Hintergrund.

„Es ist ja gut, dass Menschen wie er aussteigen. Aber sie sind keine Helden, müssen sich mit ihrer Schuld auseinandersetzen und auch Verantwortung übernehmen“, sagt Hübler. Damit meint sie, dass Aussteiger auch auspacken sollen, an welchen Aktionen sie beteiligt waren. Auspacken nicht unbedingt gegenüber der Polizei, sondern gegenüber den Opfern. „Bei vielen Übergriffen wissen die Opfer bis heute nicht, wer dahintersteckt“, sagt sie.

Macht Maik Scheffler das? Sich mit seiner Schuld auseinandersetzen? Verantwortung übernehmen? Versteht er, dass Leute ihm nicht verzeihen können?

Hier wird Scheffler ein bisschen vage. Das Schlimmste, was er getan haben will: „Ich habe in meinen Reden und Schriften zu Hass angestachelt. Es kann durchaus sein, dass das der letzte Funken für jemand war, Gewalttaten zu begehen. Aber das weiß ich nicht.“ Er selber sei aus allen strafbaren Aktionen rausgehalten worden, weil er ab einer bestimmten Führungsebene zu wichtig gewesen sei und „zu wertvoll, um im Gefängnis zu landen“.

Er sagt auch: „So weit zu gehen, einen Menschen zu töten, so weit war ich nie. Aber ich weiß auch nicht, wie stark die Ideologie letztendlich gewesen wäre, wenn ich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe vom NSU gekannt hätte.“

Das ihm manche nicht verzeihen können, müsse er aushalten, sagt Scheffler. „Das war meine Vergangenheit, meine Schuld, ich verleugne sie nicht und ich vergesse sie nicht. Aber ich bitte auch darum, dass man mir eine zweite Chance gibt.“

Die Tattoos auf seiner Haut hat er sich nicht entfernen, sondern umstechen lassen. Aus den Hammerskins wurde ein Rabe, der für „free spirit“, einen freien Geist, stehen soll. Aus dem Landser-Schriftzug wurde ein Universum, das man durch zerbrochene Glasscheiben sieht. Der letzte Bruch, die letzte Abkehr vielleicht. Der alten Überzeugung in einem schmerzhaften Prozess, Stich für Stich, entsagt.

In der Zitadelle Spandau gibt es die Ausstellung „Haut.Stein“, die diese Umwandlung zeigt, von Maik Scheffler und anderen Aussteigern. Im November wird Scheffler da sein und wieder berichten, von sich, seinen Tätowierungen und seiner Vergangenheit.

Von: Karl Grünberg, Oktober 2020, erschienen im Tagesspiegel und im Dialog-Magazin.