Publik Forum, 2020
Von Gandhi bis Belarus: Wie gelingt gewaltfreier Widerstand? Wo scheitert er? Und ist es wirklich legitim, für zivilen Ungehorsam Gesetze zu brechen? Ein Report von Karl Grünberg.
Der Kontrast könnte nicht größer sein. Schulter an Schulter stehen die schwerbewaffneten Polizisten, gesichtslos mit Sturmhauben und Helmen. Vor ihnen kniet eine Frau, weiß gekleidet, ein Stück roten Stoffs in den Händen. Sie blickt die Polizisten an, spricht mit ihnen. Sie ist eine jener Frauen auf den Straßen von Minsk, die seit August fordern, der belarussische Präsident Aljaksandr Lukaschenko solle zurücktreten. Sie sind laut, sie wirken kraftvoll – und verletzlich zugleich.
Woche für Woche treibt die Staatsmacht die Demonstranten mit Gewalt auseinander. Doch je härter die Staatsmacht vorgeht, umso kreativer reagieren die Bürger. Journalisten werden verhaftet? Die Bürger filmen die Übergriffe und stellen die Videos ins Internet. Die Bürger verweigern Steuerzahlungen. Arbeiter streiken. Für all das riskieren sie Verhaftung oder Folter. Der Protest wird auch ungehorsamer. Nur eines werden die Demonstranten zum allergrößten Teil nicht: selber gewalttätig.
Das, was in Belarus geschieht, kann man dem gewaltfreien Widerstand zuordnen, jener Form des Protestes, die von Gandhi geprägt, von Martin Luther King fortgeführt wurde und seitdem weltweit immer wieder Gesetze überwand, umfassende Reformen erzwang und manchmal sogar Systeme stürzte. Und nicht zufällig erinnern die Bilder aus Minsk an das Ende der DDR im Jahr 1989, als friedliche Demonstranten in Leipzig, Berlin und anderen Städten das SED-Regime niederrangen.
Auch in der Bundesrepublik entwickelte sich eine Praxis des Gewaltfreien Widerstandes. Da sind die frühen Kriegsdienstverweigerer, da ist die Friedensbewegung oder der Anti-Atomprotest im Wendland. »Die Aktivisten wollen einen Konflikt sichtbar machen, aber dabei die Gewalt, die die Gesellschaft durchdringt, nicht reproduzieren. Das ist der gewaltfreie Ansatz«, erläutert der Protestforscher Simon Teune von der TU-Berlin.
Doch reicht es aus, nur auf Gewalt zu verzichten? Was genau ist dieser »Gewaltfreie Widerstand«, den Gandhi und Luther King praktiziert haben? In welcher Form findet er heute statt und wo sind seine Grenzen?
Gandhi und King gelten heute als Vorbilder und Helden. In ihrer jeweiligen Zeit und Gesellschaft aber wurden sie als radikale Unruhestifter angesehen. Sie saßen im Gefängnis, brachen bewusst Gesetze. Sie sahen es als ihre Pflicht an, gegen ungerechte Gesetze anzukämpfen, sie waren überzeugt, dass Moral und Gewissen auf ihrer Seite sind, im Kampf gegen Willkür und Unrecht.
Gandhi und seine Mitstreiter kämpften gegen die Diskriminierung der Inder durch die britischen Kolonialherren und für die Unabhängigkeit Indiens. Mit Waffengewalt hätte sie ihre Ziele nie erreichen können. Das Britische Empire war zu diesem Zeitpunkt die stärkste militärische Macht der Welt. Gandhi wählte stattdessen die Gewaltfreiheit und den zivilen Ungehorsam.
Ziviler Ungehorsam beinhaltete, dass bewusst und öffentlich Gesetze übertreten werden. Wichtig dabei: Die Aktionen müssen gewaltfrei sein, sie müssen öffentlich stattfinden und jeder, der daran teilnimmt, muss bereit sein, Strafe und Leid auf sich zu nehmen.
»Ich möchte Sie einzig und allein durch mein Leiden besiegen«,
das schrieb Gandhi 1920 in einem Brief an die britische Öffentlichkeit.
Dieses Leid war seine Stärke, denn es war Ausdruck der eigenen Aufrichtigkeit. Nur wer bereit ist zu leiden, hat die Moral auf seiner Seite. Je stärker ihn die britische Regierung also bekämpfte, umso mehr er litt, umso größer wurde seine moralische Überlegenheit. Sobald man aber selber Gewalt anwendet, verliert man diese Moral: »Das Streben nach Wahrheit verbietet es, dem Gegner gegenüber Gewalt anzuwenden, vielmehr muss er durch Geduld und Sympathie vom Irrtum abgebracht werden«, schreibt Gandhi in demselben Brief.
Das berühmteste Beispiel ist der Salzmarsch von 1930. Die Briten besaßen das Salzmonopol und hatte den Indern verboten, ihr eigenes Salz abzubauen. Stattdessen sollten sie es von den Briten kaufen. Zusammen mit 78 Begleitern lief Gandhi knapp 400 Kilometer bis zur nächsten Küste, um in einer symbolischen Aktion ein Salzkorn aufzuheben und damit das Salzmonopol und das Gesetz zu brechen. Ganz Indien sollte sich dieser Gesetzesübertretung anschließen. In der Folge wurden 50.000 Menschen verhaftet. »Unser Triumph besteht darin, eingesperrt zu werden, obwohl wir nicht das geringste Unrecht begangen haben«, schreibt Gandhi im Jahr 1921. Am Ende lenkte die britische Regierung ein und schaffte das Salzmonopol ab. Gandhis Strategie ging auf.
Ertragen von Gewalt muss eingeübt werden
Martin Luther King nannte diese Akte des gewaltfreien Widerstandes »direct actions«. Mit ihnen verstieß er von den 1950er bis in die 1960er Jahre immer wieder bewusst gegen die Rassentrennungsgesetze in den USA. Er wollte eine polizeiliche und juristische Reaktion provozieren. Denn mit jeder Strafe und jedem Gerichtsprozess musste der Staat ein ums andere Mal rechtfertigen, warum er an Gesetzen festhielt, die den Prinzipien der gleichen Bürgerrechte widersprachen.
Direkte Aktionen waren: In Restaurants und Cafes sich auf Plätze setzen, die nur für Weiße vorgesehen waren und solange bleiben, bis die Polizei kommt. Die Buslinie boykottieren, in der Schwarze und Weiße getrennt voneinander sitzen müssen und stattdessen zu Fuß laufen. Oder zu demonstrieren, obwohl dies von den Behörden untersagt worden war. Bei vielen dieser Aktionen wurden die Protestler geprügelt, von Polizeihunden gebissen oder manchmal von einem weißen Mob gelyncht. Martin Luther schrieb 1963 aus dem Gefängnis: »So blieb uns keine andere Wahl als eine direct action einzuleiten, bei der wir unsere ganze Person einsetzen, um dadurch das Gewissen unserer Mitbürger und unseres Volkes wachzurütteln.«
Schwieriger ist ein solches Vorgehen in autoritären Regimen. »Auch da kann gewaltfreier Widerstand funktionieren, aber der Rahmen, in dem solche Aktionen stattfinden, ist nicht berechenbar«, sagt Protestforscher Teune. In Syrien etwa: Dort begehrten Menschen gegen die verkrusteten Herrschaftssysteme und den langjährigen Machthaber auf, forderten ein Ende der Korruption und mehr Mitbestimmung. Doch der arabische Frühling wurde brutal niedergeschlagen. »Ihre Mittel waren sehr lange größtenteils friedliche Demonstrationen und Akte des zivilen Ungehorsams«, sagt Teune. Im Gegenzug ertrugen sie Gewalt und Demütigung der Geheimdienste, der Polizei und des Militärs. Gewissen, Moral und Wahrhaftigkeit waren und sind aber keine Kategorien, an denen der autoritäre Machthaber Assad sich messen lässt. Im Gegenteil. Er ließ schießen. Der Protest radikalisierte sich ebenfalls, Bürgerkrieg war die Folge.
Auch in Russland, der Türkei oder in Hongkong kommt der immer wieder aufflammende gewaltfreie Widerstand gegen die Macht der Herrscher nicht an. »Vor allem verhindert das Fehlen eines öffentlichen Gerechtigkeitssinns, der von den Prinzipien der gleichen Freiheit getragen ist, eine effektive Adressierung der Öffentlichkeit und erleichtert so die Repression im Namen von ‚Recht und Ordnung‘«, schreibt der Politikwissenschaftler Andreas Braune über »Zivilen Ungehorsam«.
Bei Gandhi und King, aber auch in Belarus oder Hongkong, ging und geht es um das große Ganze – um eine Frage, um einen Kampf, um alles oder nichts. In Deutschland, einem liberalen Rechtsstaat, werden gewaltfreier Widerstand und ziviler Ungehorsam anders angewendet, kleiner und an partikularen Interessen ausgerichtet. »Bei uns sind es soziale Bewegungen, die zu ganz unterschiedlichen Fragen einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen wollen«, sagt Teune.
Aktuell praktiziert das beispielsweise die Klimabewegung. Schon am niedrigschwelligen Ungehorsam der Fridays for Future-Bewegung lässt sich erkennen, wie gut Gandhis und Kings Prinzipien funktionieren. Die Schülerinnen und Schüler haben exakt eine Ungehorsamkeit begangen: Statt in die Schule gingen sie freitags demonstrieren. Diese eine Regelübertretung zwang die Erwachsenen, die Autoritäten also, sich mit dem Anliegen der Schüler auseinanderzusetzen. Das lässt sich nicht mit Gefängnisstrafen und exzessiver Gewalt vergleichen. Aber die Strategie ist dieselbe.
Mit Steinen geht Legitimation verloren
Auch die Aktionen von Ende Gelände beruhen auf den Grundlagen des gewaltfreien Widerstands. Ende Gelände ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sich für den Klimaschutz und gegen den weiteren Kohle-Abbau einsetzen. Um das zu erreichen, blockieren sie Zufahrten zu Kohlekraftwerken, dringen in Tagebaue ein und besetzt Kohlebagger. »Wir begehen einen bewussten Regelübertritt, um auf die Ungerechtigkeit und die Dramatik der Klimakrise hinzuweisen«, sagt die 27 Jahre alte Aktivistin Nike Mahlhaus. »Das hat einerseits Symbolcharakter, andererseits verhindern wir, dass in diesem Moment Kohle abgebaut wird und durch deren Verbrennung Tonnen von C02 in die Atmosphäre gelangen.«

Ihr Einsatz sind ihre Körper, »das Verletzlichste und wertvollste, was wir haben«, wie Mahlhaus sagt. In ihrem Aktionskonsens heißt es: »Wir werden uns ruhig und besonnen verhalten; wir gefährden keine Menschen. Wir werden mit unseren Körpern blockieren und besetzen. Es ist nicht das Ziel, Infrastruktur zu zerstören oder zu beschädigen.« Blockade und Besetzung sind kalkulierte Regelbrüche, gerechtfertigte, wie Mahlhaus findet: »Unsere Zukunft ist durch die Klimakrise in jeglicher Hinsicht in Gefahr. Das ist Unrecht.«
Wer bei Ende Gelände mitmacht, entscheiden sich, gewaltfrei zu agieren und keine Sachbeschädigungen zu begehen. Anders ist es bei Protestaktionen, wo nicht alle Teilnehmenden mit einer Stimme sprechen und sich nicht klar gegen Gewalt abgrenzen – etwa bei den Waldbesetzungen im Hambacher Forst vor zwei Jahren. Da waren einerseits die entschlossenen, aber gewaltfrei agierenden Baumbesetzer. Andererseits gab es auch gewalttätige Gruppen und Einzelpersonen, die Steine und Brandsätze auf Polizisten und RWE-Arbeiter warfen.
Wo es brennt, Scheiben zu Bruch gehen oder Menschen verletzt werden, geht die moralische Legitimation verloren. Gandhi hatte seinen ersten landesweit organisierten Protest und Streiktag abgebrochen, als dieser in einigen Orten gewalttätig wurde und sein ganzes Projekt dadurch in Gefahr geriet.
Damals wie heute muss das Ertragen von Gewalt eingeübt werden. Dazu gehört laut Gandhi Disziplin und eine starke innere Überzeugung. In den Bürgerrechtsgruppen der USA übten die Aktivisten in Rollenspielen, wie es sich anfühlt, in ein Café für Weiße zu gehen und sich an den Tresen zu setzen, dabei höflich zu bleiben, auch wenn man angebrüllt, geschubst und geschlagen wird. Auch bei Ende Gelände gibt es ein sogenanntes Aktionstraining, bei dem die Klimaaktivisten üben, in einer Sitzblockade zu sitzen und sich wegtragen zu lassen. Oder sie trainieren, wie man eine Polizeikette umgeht, ohne Gewalt auszuüben.
Wer aber gibt Akteuren wie Ende Gelände das Recht, das Gesetz nach eigenem Gutdünken zu brechen? Der Unterschied zwischen dem damaligen Indien, dem heutigen Syrien und Deutschland ist doch, dass es hier und jetzt ein funktionierendes demokratisches System gibt. Jeder kann seine Ideen vortragen und für diese Ideen streiten. Schadet es einer freien Gesellschaft nicht sogar, wenn jeder das Recht in seine Hände nimmt, selbst wenn dies gewaltfrei geschieht? Nike Mahlhaus hält zivilen Widerstand angesichts der Bedrohung durch die Klimakrise legitimiert. Da sei niemand, der ernsthaft an einer Lösung arbeite. »Klimakonferenzen und Selbstverpflichtungen führen zu nichts. Deshalb müssen wir uns außerhalb des Systems bewegen.«
Den einen gewaltfreien Widerstand gibt es nicht. Jede Gesellschaft und jede Generation findet ihre eigene und auch neue Anwendungsform. Neu ist zum Beispiel, dass sich im Internet das eigene Anliegen schnell ins ganze Land oder um die Welt transportieren lässt. Fotos und Videos, die als Zeugnis erfahrener Gewalt dienen, werden in den sozialen Medien verbreitet. Messanger-Dienste wie Telegram genutzt, um Massenprotest wie in Belarus zu organisieren. Die Grundprinzipien aber, so wie Gandhi sie angewandt und King sie weitergeführt hat, bleiben dieselben: die unbedingte Gewaltfreiheit bei der öffentlichen Aktion und die Bereitschaft dafür Strafe und Leid auf sich zu nehmen, um damit das Gegenüber von der eigenen Wahrhaftigkeit zu überzeugen.
Von: Karl Grünberg, erschienen in Publik Forum, 2020