Greenpeace Magazin, 2020

Verrückte oder Engagierte? Ein paar Tausend Menschen sind angetreten, die Landwirtschaft in Deutschland zu revolutionieren. Mit gutem Gemüse, fairen Preisen und viel eigener Arbeit bei „ihren“ Bauern. Das Prinzip Solidarische Landwirtschaft hat tiefgrünes Wachstumspotenzial. Auf Liefertour mit der Solawi „Sterngartenodyssee“.

Es ist 4 Uhr morgens, wenn sie sich in Berlin, Halle und Leipzig aus dem Bett quälen. Im normalen Leben sind sie Lehrer, Sozialarbeiter, Studenten und IT-Spezialisten. An diesem Mittwoch sind sie Helferinnen und Helfer der „Sterngartenodyssee“, einer Solidarischen Landwirtschaft, kurz Solawi. Sie setzen sich in die Bahn, ins Auto oder den Lieferwagen, schwärmen zu ihren Bauern aus, um Gemüse, Obst und Saft abzuholen und, ja, die Hände in die Erde zu stecken, Salat zu schneiden und Hecken zu pflanzen.

Selber beim Bauern für die Kartoffeln ackern? Normal ist das nicht. Normal ist, dass man Gemüse im Supermarkt kauft. Normal ist, dass der Bauer am Anfang einer langen Lieferkette steht. Einer Kette, in der es vor allem um Stückkostenoptimierung geht. In der Solawi ist vieles anders.

Doch wie funktioniert das konkret? Wie viel Arbeit steckt jeder Einzelne in sein Gemüse? Und könnte dieses Modell auch im größeren Maßstab funktionieren? Für eine Kommune, eine Stadt, ein Land? Könnte dieses regionale Prinzip darüber hinaus eine Antwort für die aktuellen Krisen liefern? Krisen, wie Corona, in denen sichtbar wird, wie fragil internationale Handelsketten sind?

5.30 Uhr, Berlin

Es ist noch dunkel, als Ognyan Tzotchev, klein und drahtig, in den Lieferwagen steigt. Der Tag wird lang, denn heute ist Liefertour, wie jeden Mittwoch. „Wir fahren zu unseren Bauern und holen das Gemüse ab. Wir wiegen es, wir packen es in Kisten und bringen es zu den einzelnen Gruppen nach Berlin, Halle und Leipzig. Bei einer Bäuerin müssen wir auch noch ernten“, sagt Ognyan. 14 Stunden, 16 Stunden, bis er wieder zuhause bei seiner Familie sein wird. Seine Verpflegung: Wasser, Haselnüsse, ein Apfel.

Ognyan Tzotchev ist seit der Gründung der Sterngartenodyssee dabei. Damals, 2013, arbeitete er noch als Programmierer. „Eine Arbeit ohne Sinn. Viele Stunden im Büro, vor dem Bildschirm, damit die Firma Geld verdient“, sagt er. Mit ein paar Dutzend Leuten ging es los. „Heute verteilen wir jede Woche 550 Portionen von vier Demeter-Höfen“, sagt er.

„Portion“ nennen die Sterngärtner ihren wöchentlichen Ernteanteil, jeder reicht für etwa zwei Leute. Die Mitglieder sind in kleinen Gruppen organisiert. Jede hat ihren eigenen Ort, an dem das Gemüse abgeholt wird, ein eigenes Bankkonto, eigene Ansprechpartner und gelegentliche Treffen. „So bleibt alles dezentral, wird nicht zu anonym und gleichzeitig hat man es in einer großen Stadt, wie Berlin, nicht so weit zu seinem Gemüse“, erklärt Ognyan.

In einem Kalender auf der Webseite können sich die Mitglieder für Liefertouren und Arbeitseinsätze eintragen. Manche dieser Einsätze dauern einen Tag, andere ein Wochenende, dann mit Lagerfeuer und Übernachtung auf dem Land. Jeder hilft so oft er kann, mindestens drei Mal im Jahr. „Wir führen keine Strichlisten“, sagt Ognyan. „Selbstverantwortung und Vertrauen, darum geht es hier.“

Seinen Programmierjob hat er aufgegeben und arbeitet nun Vollzeit für die Solawi. „Das ist einfach so passiert“, sagt er. „Weil die Sterngartenodyssee größer und größer wurde, brauchten wir jemanden, der die Organisationsfäden zusammenhält.“

Einen Bezirk weiter steigt Sara zu, groß, mit Brille und langen Haaren. Sie ist Projektkoordinatorin bei einer NGO und heute eine der Helferinnen. Wie sie zur Sterngartenodyssee gekommen ist? Vor einer Weile war sie in China und hat dort ein ähnliches Projekt besucht. Die waren so groß, dass sie eine ganze Stadt mit ökologisch angebauten Lebensmitteln versorgt haben. „Das hat mich beeindruckt“, sagt sie. Außerdem habe sie Allergien, die sie mit gesunder Ernährung in den Griff bekommen möchte. „Ich will einen Bezug zu meinem Essen haben und zu der Arbeit, die damit zusammenhängt, aber ich will nicht selber Bäuerin werden. Das ist ja Quatsch.“ Etwa fünf Mal im Jahr hilft sie. Das Gemüse, das sie bekommt, deckt in ihrer WG etwa dreißig Prozent des Bedarfs an Lebensmitteln. Für ihre Portion zahlen sie und ihre Mitbewohnerin 85 Euro im Monat.

6 Uhr, Potsdam

Ognyan und Sara fahren auf dem Florahof von Markus Schüler vor. „Ein Familienbetrieb. Vater und Mutter helfen auch mit“, erklärt Ognyan. Vater Schüler steht schon im Hof, „Markus schläft noch“, grüßt er. Dann öffnet er das Kühlhaus und schiebt die Salate raus. 550 Stück. Kiste für Kiste tragen Ognyan und Sara in den Lieferwagen. Jetzt kommt Markus Schüler doch dazu. Er will noch kurz über den Hof führen. Er zeigt die Pferde, die Gewächshäuser und das Feld, auf dem schon die nächsten Salate wachsen, von einer Plane vor dem kalten Ostwind geschützt.

Markus Schüler hat eine ruhige Art, zeigt hierhin und dorthin, spricht langsam und erklärt detailliert. „Ich will nicht düngen und spritzen“, sagt er. „Gegen die Blattläuse zum Beispiel nehme ich Schlupfwespen oder die Florfliege oder ich warte auf den Marienkäfer. Bis sich da ein natürliches Gleichgewicht ergibt, kann es ein paar Jahre dauern. Da gibt es auch mal Ausfälle.“ Gut, dass seine Städter dann trotzdem zahlen. Markus Schülers Gemüse ist es ihnen wert. Ein Hahn kräht, die Pferde wiehern, Vögel zwitschern den Sonnenaufgang herbei. Es ist 6.30 Uhr. Zeit, zu gehen. Rein ins Auto und ab auf die Autobahn, zum nächsten Hof.

2011 gab es in Deutschland zwölf registrierte Solawi-Projekte. Heute sind es 280 und weitere fünfzig befinden sich in Gründung, gibt das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft an. Die allermeisten Kooperativen wirtschaften ökologisch und kommen im Schnitt auf hundert Ernteportionen. Solawis existieren in Japan und Südkorea, in Frankreich, Belgien, der Schweiz und in den USA, wo sie CSA heißen, „Community Supported Agriculture“.

Sie funktionieren überall ähnlich: Auf der einen Seite stehen die Bauern, die ausrechnen, was sie für ihr Leben, ihre Arbeit und den Hof mit all seinen Kosten brauchen. Daraus ergibt sich ein Preis für ihre Erzeugnisse. Auf der anderen Seite findet sich eine Gruppe von Menschen, die diesen Preis bezahlt, die Erzeugnisse selber abholt und mithilft, die aber auch mitbestimmt, was angebaut wird. Bei der Sterngartenodyssee gibt es dafür einmal im Jahr die Anbauplanung. Da kommen Bauern und Mitglieder zusammen und besprechen, was und wie viel im nächsten Jahr auf den Feldern, in den Gewächshäusern und Obsthainen wachsen soll. Die Bauern und ihre Städter – sie sind eine regionale Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft.

9 Uhr, Taucha, Bienert-Hof

Die Sonne drückt ihre Strahlen durch das Glas des Gewächshauses, erhitzt die Luft. Sara Spring und drei weitere Helferinnen beugen sich über den Rucola, scharfe Erntemesser in der Hand. Ein Bündel fassen, nicht zu tief und nicht zu hoch, schneiden. Auf die Finger achten. Meter um Meter, Gemüsereihe um Gemüsereihe arbeiten sich die Helferinnen vorwärts. Still ist es, fast meditativ. Dann kommen Unterhaltungen auf. Was man denn mit diesem vielen Winter-Sellerie macht? Raspeln zum Beispiel, Öl drauf, etwas Salz und schon hat man einen perfekten Salat, empfiehlt eine. Und mit dem Grünkohl? Im Ofen mit Öl anbacken und schon hat man tolle Grünkohlchips. Mit der Schwarzwurzel? Der Roten Bete? „Es ist ein bisschen verrückt“, sagt Sara Spring. „Wir müssen wieder lernen regional und nach den Jahreszeiten zu kochen, wie unsere Großeltern.“

Hundert Meter weiter steht eine Lagerhalle mit zwei großen Kühlräumen. Darin stapeln sich grüne Kisten. Ognyan Tzotchev und zwei weitere Helfer sortieren und wiegen das Gemüse. „Wie viel entfällt auf jede Portion? Wie viel bekommt jede Gruppe? Das rechnen wir gerade aus“, erklärt er. Möhren, Kartoffeln, Sellerie und Rote Bete stammen noch aus der Winterernte, im Kühlhaus gelagert. „Knoblauch und Zwiebeln sind gestern Abend von unseren Helfern auf dem Hof ‚Grüner Berg‘ geerntet worden. Und der Apfelsaft kommt direkt von Simon Junge und seiner Apfelsternwarte.“

12.30 Uhr, dreißig Kilometer weiter

Simon Junge, ernste Falten in der Stirn, konzentrierter Blick, kniet in einer Plantage neben einem hüfthohen Apfelbäumchen und schneidet behutsam die oberen zwanzig Zentimeter ab. Der Obstbauer nimmt einen Zweig einer anderen Apfelbaumsorte aus einem Korb, legt beide Enden aufeinander und wickelt ein biologisch abbaubares Klebeband um die Schnittstellen. Veredelung nennt sich dieser Prozess. „Am Ende kommt ein grüner, unscheinbarer, manchmal buckeliger Finkenwerder-Apfel heraus, eine alte Sorte“, sagt Junge. „Aber schmecken tut der richtig gut.“ Und darauf kommt es an. Im Supermarkt sind die Gurken gerade und die Äpfel rund. Großhändler schicken den Bauern zurück, was nicht in die Norm passt. In der Solawi ist die Norm egal. „Hier zählt nur der Geschmack, egal ob krumm oder buckelig“, sagt er.

Vor drei Jahren hat Junge Apfelkerne in die sächsische Erde gesteckt, nun stehen hier 800 Jungbäume. Wenn sie groß sind, werden ihre Wurzeln tief hinunter reichen. Dahin, wo es feucht ist. Dann werden sie auch mit langer Trockenheit klarkommen. „Viele Obstbauern arbeiten auf Masse. Sie spritzen, sie wässern. Das will ich nicht“, sagt er. Seine Methode dauert, acht Jahre bis zum ersten Apfel. „Die Solawi gibt mir die Zeit.“ Simon Junge mostet für die Sterngärtner Apfelsaft, er liefert Birnen, Äpfel, Quitten.

Gerade hat er zehn Helfer aus Berlin und Leipzig da. Den ganzen Vormittag haben sie sich um die Aronia-Büsche gekümmert. Ausbreiten sollen die sich und eine Hecke bilden. Aronia-Beeren gelten als Superfood, ein Kilo kostet im Laden zwanzig Euro. Jetzt sitzen die Helfer auf dem Boden, ein Kind turnt auf Heuballen herum. Der Bauer hat gekocht, es gibt Hirse mit Gemüse.

Und während sie ihre müden Glieder strecken, die Schüsseln füllen und zulangen, die Städter und ihr Bauer, entspinnt sich eine Diskussion. Ob ihre Solawi nicht schon zu groß ist? Knapp 600 Portionen, das wird doch zu anonym. Eine Solawi braucht doch Gemeinschaft, Austausch, Abstimmung. Oder ob sie nicht noch viel zu klein ist? Man müsse viel mehr Menschen erreichen, damit man nicht nur in seiner Blase bleibe und der konventionellen Landwirtschaft etwas entgegensetzen könne.

Eine richtige oder falsche Antwort auf die Größenfrage gibt es nicht. Einer Solawi geht es solange gut, wie das Vertrauen zwischen allen Beteiligten gewährleistet ist. „Es ist das höchste Gut, das eine Solawi hat“, sagt Marius Rommel, Nachhaltigkeitsforscher an der Universität Siegen. Andererseits muss das Netzwerk groß genug sein, damit die Betriebe davon leben können. Doch wie kann sich das Modell dann weiter verbreiten? „Durch horizontales Wachstum“, sagt Rommel. Statt die eigene Solawi immer weiter zu vergrößern, unterstützt eine bestehende Gruppe die Gründung einer neuen. So wächst die Idee und kann ihren Teil dazu beitragen, das Agrarsystem regionaler, fairer und ökologischer zu organisieren. Dafür müsse sich allerdings auch die europäische Agrar- und Förderpolitik ändern, meint Phillip Brändle von der Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft: Die kleinen Betriebe müssten die Zuschüsse bekommen und nicht vor allem die Großen mit dem meisten Land. Dennoch ist die Solawi wohl eher nicht das Modell für die Massen. Nicht jeder Bauer hat den Enthusiasmus, wöchentlich Städter auf dem Hof zu haben, die auch noch mitplanen wollen, sagt Brändle. Und für den größten Teil der Bevölkerung ist das Prinzip sicher zu ungewohnt, zu aufwändig und für einige bestimmt auch zu teuer.

Dabei funktioniert Solawi auch in ganz groß. In Südkorea gibt es die weltweit größte genossenschaftlich organisierte Solawi. Hansalim heißt sie. 2300 bäuerliche Betriebe bauen für 660.000 Mitglieder an. Insgesamt werden so 1,6 Millionen Menschen mit Bioprodukten versorgt, die über Genossenschaftsmärkte zu den Mitgliedern kommen. Hansalim ist nicht gewinnorientiert, die Bauern arbeiten nicht für den freien Markt. So landen 73 Cent pro Euro beim Bauern. Der Preis für die jeweiligen Erzeugnisse wird Jahr für Jahr gemeinsam ermittelt.

17.30 Uhr, Autobahn

Rückfahrt nach Berlin. Im Laderaum stapeln sich grüne Kisten mit Kartoffeln, Roter Bete, Möhren, Salat, Sellerie, Zwiebeln und Knoblauch. Sechs Kilo pro Portion. Wer will, kann zudem Eier, Honig, Käse und Brotaufstrich aus Brandenburg bestellen, aber auch Öl aus Griechenland und Zitrusfrüchte aus Sizilien. „In Sizilien gibt es einen kleinen Ökohof. Die nutzen unsere Solawi-Logistik, um viermal im Jahr Orangen direkt zu uns zu bringen“, erklärt Ognyan. Dafür spritzen sie nicht und bezahlen ihre Mitarbeiter auskömmlich. Einige Mitglieder waren dort und haben sich alles angeschaut. Damit hat die Solawi einen alternativen Handel aufgebaut, der sich für Verbraucher wie Produzenten lohnt, weil Supermarkt und Großmarkt ausgeschaltet sind. Hin und wieder schreiben die Orangen- und Olivenbauern, wie es ihnen ergeht. „Alles andere ist eine Frage des Vertrauens“, sagt Ognyan. Wie bei der Sterngartenodyssee: Wenn ihre Bauern sagen, dass sie die Preise brauchen, um gut zu wirtschaften, kontrollieren sie das nicht. Das Wort gilt.

„Es ist auch dieses Vertrauen, dass die Solawi krisenfester macht“, sagt Ognyan. Und tatsächlich, alle sind überzeugt, dass diese Wirtschaftsweise robust ist – Simon Junge, Marius Rommel, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Zuallererst sind da die Mitglieder: Wenn ein Teil der Ernte ausfällt, weil es wochenlang nicht geregnet hat, steht man füreinander ein und der Bauer wird dennoch bezahlt. Dann ist da die Mischkultur: Ein Bauer baut zwanzig und mehr Kulturen an. Wenn eine durch Schädlinge, Dürre oder Frost Schaden nimmt, gibt es noch andere. Und weil Solawi-Bauern nicht auf Monokulturen setzen, brauchen sie auch nicht auf einen Schlag Hunderte Saisonkräfte. Wenn es doch mal schnell gehen muss, springen Mitglieder ein. Und schließlich ist da noch die Nähe zum Bauern, eine Lieferkette ohne Zwischenstationen, Grenzen oder Schiffscontainer.

18 Uhr, Tempelhof

An der Abholstation eins, einem Wohnprojekt, werden die ersten Kisten entladen. Ein neuer Helfer steigt zu, um mit Ognyan die restlichen Stationen der zwanzig Berliner Gruppen zu beliefern. Sie befinden sich in Cafés, in Parteibüros, Wohngemeinschaften oder in privaten Kellern. Manche Mitglieder holen ihr Gemüse sofort, andere am nächsten Tag. Dabei wiegt sich jeder seine Portion ab. Auch das ist eine Frage des Vertrauens.
Spätabends, die Helfer kehren erschöpft nach Hause zurück. Nächste Woche werden es andere sein, die sich frühmorgens aus dem Bett quälen und sich auf den Weg machen.

Von: Karl Grünberg, Juni 2020, Greenpeacemagazin