Greenpeace Magazin, 2022 / ©–Foto: Oliver Giel
Bei jedem Wetter draußen, wandern, Zäune ziehen: Es gibt nur noch wenige traditionelle Schäferinnen und Ziegenhirten in Deutschland. Unterwegs mit einer, die ein mühsames, aber erfüllendes Handwerk am Leben hält. Eine Reportage von Karl Grünberg.
Es ist kurz nach acht, als die kleine, drahtige Frau das Stalltor mit einem kräftigen Ruck aufschiebt. Leises Blöken ist zu hören, hier und da ein Meckern. Schafe und Ziegen, Lämmer und Zicklein. Die meisten liegen noch träge im Heu, manche drängen sich schon am Gatter. „Guten Morgen! Hattet ihr eine ruhige Nacht?“, ruft Sabine Krüger, wuchtet einen Ballen herbei und streut Stroh ins Gehege. Als sie sich den Futterständen widmet, sind plötzlich alle auf den Beinen, ein tierisches Durcheinander.
„Geht ja gleich los, immer mit der Ruhe“, sagt Krüger. Die Jungtiere bekommen eine spezielle Körnermischung, die anderen Grassilage. Sabine Krüger schleppt, bis ihr die Arme schwer werden. Hilfe will sie aber keine. „Alleine geht’s besser“, sagt sie. Staub wirbelt dick durch die Luft, legt sich auf ihre Brillengläser. Sabine Krüger ist Schäferin und Ziegenhirtin, mit rund 200 Tieren ist sie in der hügeligen Gegend rund um Sindelfingen bei Stuttgart unterwegs. Jeden Tag, das ganze Jahr, ob kalt oder warm, auch wenn sie krank ist – Krüger ist bei ihren Tieren. Früher hätte sie vom Verkauf von Wolle und Fleisch leben können. Doch Wolle ist kaum mehr etwas wert, und Schafsfleisch gibt es billiger aus Neuseeland.
Sie wurde Hirtin, um etwas für Tiere und Pflanzen zu tun. Und fand darin ihre Lebensaufgabe
Deshalb nennt sich Sabine Krüger auch Landschaftspflegerin. Mit ihren Tieren hilft sie, die Artenvielfalt zu bewahren und wertvolle Kultur- und Naturlandschaften zu erhalten. Krügers Leben scheint ein ständiger Kampf zu sein. Trotzdem macht sie ihren Job mit Leidenschaft. Sie liebt die Tiere, ihre vier Hunde und den Kreislauf des Lebens, der mit der Geburt der Lämmer beginnt. Jeden Tag berichtet sie als „Ziegenmama“ auf ihrem Twitterkanal darüber. „Ich will Verständnis dafür schaffen, wie wichtig und gleichzeitig prekär unsere Arbeit ist.“
Endlich sind die Tiere versorgt. Prüfend schaut sie auf ihre mampfende Herde. Liegt ein Tier reglos am Boden? Sieht bei einem das Fell ungewöhnlich aus? Hat sich etwa eine kleine Wunde infiziert? Heute geht es allen gut. Krüger hält kurz inne, schließt die Augen, atmet die würzige Tier- und Stallluft ein, lauscht. „Diese gefräßige Ruhe ist eines der schönsten Geräusche überhaupt“, sagt sie. In diesem Moment fühlt Sabine Krüger sich eins mit ihrer Arbeit und ihren Tieren. Jetzt noch Wasser in die Tröge füllen, dann ist sie im Stall fertig. Gleich muss sie weiter zu den Ziegen, die auf einer Wiese im Nachbarort stehen. Seit 21 Jahren macht Sabine Krüger das schon. „Ich werde so lange Schafe und Ziegen haben, bis ich nicht mehr kann“, sagt die 59-Jährige.
Vorher hat sie zehn Jahre lang als Hauswirtschafterin gearbeitet. „Dann wollte ich etwas für die Natur tun.“ Früher galten sie und ihr Mann im Dorf als „die verrückten Naturschützer“, das ist lange her. Krüger gründete die Ortsgruppen der Grünen und des BUND mit.
Stalltür zu, Autotür auf. Je nach Bedarf teilt sie ihre Herde auf mehrere Flächen auf. Lieblingshündin Luna springt auf den Rücksitz von Krügers Pick-up. Auf der Fahrt erzählt sie, wie sie mit den Schafen und Ziegen wandert, von Wiese zu Wiese. Früh morgens gehe sie los, wenn die Straßen noch ruhig sind. Sie vorne weg, die Tiere hinterher. Die Hunde machen Tempo und passen auf, dass niemand ausbüxt. Nicht immer klappt das: Neulich habe Streusalz auf der Straße gelegen, das hätten die Ziegen aufgeleckt. Und einmal habe ein Hund die Herde einfach geteilt. Da lief die eine Hälfte plötzlich durch die Stadt und blieb erst vor dem Altersheim stehen. Ein anderes Mal fuhr ein Auto in die Herde. „Drei verletzte Tiere musste ich vor Ort erlösen. Schrecklich.“ Trotz allem seien die Wanderungen das Schönste am Job. Und sie helfen dem Ökosystem der Kalkmagerwiesen. „Meine Tiere sind regelrechte Samentaxis“, sagt Sabine Krüger. Während sie fressen, nehmen sie die Samen der Blumen, Kräuter und Gräser in ihrem Fell, ihren Klauen und ihren Mägen auf.
Es brummt und summt

So verbreiten sie seltene Pflanzen von Wiese zu Wiese, die sonst durch Straßen, Siedlungen und Äcker getrennt sind. Auch Käfer, Heuschrecken und andere Insekten reisen im Fell mit. „Hier gibt es so viele verschiedene Blumen und Kräuter, Insekten, Eidechsen und Vögel“, sagt Krüger, „es brummt und summt und raschelt, wo vorher nur Gras und Büsche wuchsen.“
Schließlich verhindern die Tiere, dass die Wiesen zuwachsen, indem sie Triebe von Bäumen und Sträuchern fressen. Der Pickup stoppt, Hündin Luna springt heraus, die Ziegen warten schon. Kein Tier ist verletzt, der Zaun steht noch. Ihr dickes Fell wärmt sie in der kalten Nacht, zur Not gibt es einen Unterstand. Das Gras ist abgefressen, nun muss Krüger den nächsten Teil der Wiese einzäunen. Dafür holt sie den mobilen Elektrozaun von der Ladefläche und stapft los. Alle paar Meter rammt sie einen der Metallpfähle in den Boden, der anstrengendste Teil ihrer Arbeit – und leider der größte.
500 Meter geht es in die eine Richtung, dann 200 Meter nach rechts, dann 500 Meter wieder zurück. Am Ende setzt sie den Zaun mit einer Batterie unter Strom, damit kein Tier ausreißt. Da die Beweidung oft der Pflege wertvoller Biotope dient, bekommt sie Fördergelder von der Gemeinde. Das gibt es ausverschiedenen Töpfen, etwa für die Pflege von Steillagen, wo keine Maschinen hin kommen, oder von Ausgleichsflächen, zum Beispiel für eine neu gebaute Straße.
Doch auch damit reicht das Geld meisthinten und vorne nicht. Krüger muss alles gut organisieren, um mit ihren Tieren zur richtigen Zeit auf der richtigen Wiese zu stehen. Ständig muss sie Anträge schreiben und unzählige Richtlinien einhalten, sonst drohen Strafen. Zum Glück kümmert sich ihr Mann um den Papierkram. Das Problem: Die laufenden Kosten etwa für Futter, Auto, Versicherungen und den Tierarzt sind zu hoch. Damit das Geld reicht, steht sie samstags auf dem Markt und verkauft Ziegen und Lammfleisch. „Ich bringe die Tiere bis zu unserem Metzger, gleich hier im Ort. Dann führe ich sie vom Hänger und bin dabei, wenn sie geschlachtet werden, ganz ohne Stress.“ Auf Twitter wird sie dafür von Veganerinnen und Vegetariern angefeindet.
„Würde ich meinen Stundenlohn ausrechnen, dürfte ich gar nicht mehr aufstehen“, sagt Sabine Krüger. Wie ihr geht es vielen ihrer Zunft. In Berichten nennen viele einen Stundenlohn zwischen 4,80 und sechs Euro, weit unter dem Mindestlohn. In Baden-Württemberg hat in den letzten zehn Jahren jede dritte Schäferei aufgegeben. 110 hauptberufliche Schäfer und Schäferinnen gibt es in dem Bundesland noch. Zusammen mit Hobbyhirten pflegen sie 50.000 Hektar Kultur- und Naturlandschaft. Deshalb fordern der Bundesverband der Berufsschäfer und der BUND eine Weidetierprämie – also Geld pro Tier. Immerhin will die EU ab 2023 pro Muttertier einmalig dreißig Euro zahlen.

Sabine Krüger öffnet den Zaun und ruft die Ziegen herbei. Luna flitzt hinein und treibt die Herde voran. Erst zögerlich folgen die Tiere ihrer Hirtin, dann schneller, nur ein paar hundert Meter, schon stehen sie im neu eingezäunten Areal. Rasch noch den Zaun schließen, den Strom überprüfen, Blick auf die Uhr, weiter geht’s. Eine andere Herde wartet noch, auf einem Hügel im Sindelfinger Stadtpark. Auch bei ihnen muss sie nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Mal öffnen Witzbolde den Zaun, mal ärgern Jugendliche die Tiere. Doch „die meisten freuen sich über die Schafe und Ziegen, die Kinder stellen viele Fragen“.
Einmal hat sie Urlaub gemacht, um ihren Sohn in Peking zu besuchen. Es war das zweite Mal, dass sie überhaupt geflogen ist. Drei Monate vorher hat sie begonnen, alles so zu organisieren, dass ihre Tiere versorgt waren, für die zehn Tage, die sie weg war. „Peking war toll, spannend, aufregend. Doch ich habe schnell gemerkt, dass ich das nicht brauche. Dass mein Platz hier ist, bei den Tieren.“
Text: Von Karl Grünberg, erschienen im Greenpeace Magazin, 2022
Fotos: Von Oliver Giel, https://giel-bildwelten.de/