Publik Forum, Juni 2016

Jenny und Tini. Sie sind ein Team. Sie sind auch befreundet – soweit das geht, wenn die eine die Chefin und die andere ihre Angestellte ist. Wenn die eine sagt, was die andere für sie machen soll. „Tini, kannst du mir ein Glas Wasser bringen?“ „Tini, ich muss aufs Klo.“

„Tini, kannst du noch einmal meine Haare bürsten?“ „Tini, wir müssen bald los, ich brauche noch meinen Poncho.“ „Tini, kannst du mich umdrehen?“

„Wenn ich jedes Mal ‚Bitte und Danke‘ sagen würde, wäre ich den ganzen Tag damit beschäftigt“, sagt Jenny. Tini lacht: „Jenny, du sagst immer ‚Bitte und Danke‘, zu 98 Prozent.“ „Dann fällt es mir gar nicht mehr auf“, sagt Jenny.

Jenny und Tini.

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Jenny Bießmann, 29 Jahre

Jenny Bießmann ist 29, macht ihren zweiten Bachelor an der Berliner Humboldt-Universität. Erziehungswissenschaften: „Das ist spannend“. Und Genderstudies: „Na ja, da muss ich jetzt durch“. Sie hat einen Studentenjob, 15 Stunden die Woche, trifft sich mit Freunden, reist gerne, ist schlagfertig.

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Tini Jarske, 37 Jahre

Tini Jarske ist 37, Erzieherin und Kommunikationsdesignerin und Barkeeperin und Jennys‘ Assistentin. Tini mag gefärbte Haare, Ringe in der Nase und Ringe in den Ohren. Und sie mag Jenny. Klar, Jenny ist ihre Chefin und ihr Job. Aber da ist noch mehr. Schließlich fährt sie mehrmals im Monat von ihrer Heimatstadt Hamburg nach Berlin, um Jenny die Schuhe zu binden, ihr die Haare zu bürsten, für sie die Tür abzuschließen, für sie zu kochen, für sie Uni-Ordner zu kopieren und Notizen zu machen.

Jenny ist die Normale. Tini ist die Flippige.

Wenn sie zusammen unterwegs sind, die eine auf vier Rädern, die andere auf zwei Beinen, dann ist nie ganz klar, wer von den beiden mehr angestarrt wird. Jenny oder Tini. Jenny, weil sie einen kleinen Körper hat, der in einem Rollstuhl sitzt. Tini, weil sie aussieht, wie sie aussieht, dazu die hohen Stiefel, die Sommersprossen und das Basecape.

Vor sechs Jahren fanden sie zueinander. Jenny suchte eine neue Assistentin. Tini suchte einen neuen Job. Jenny, weil sie Hilfe braucht, jede Stunde am Tag, damit sie das tun kann, was alle anderen auch tun: selbstbestimmt leben. Tini, weil sie Neues wollte und weil sie Menschen mag, „die Welt ein Stückchen besser machen“, wie sie sagt.

„Gleich zum Bewerbungsgespräch kamst du zu spät“, erinnert sich Jenny. „Mein Mofa war kaputt“, sagt Tini. „Und dann hast du auch noch gefragt, ob du Kuchen mitbringen sollst. Mich. Ich hasse Süßes“, sagt Jenny.

Wie bei jedem ihrer Bewerbungsgespräche machte Jenny gleich klar, worauf es ihr ankommt. Keine Ausbildung als Pflegerin, keine besonderen Erfahrungen als Assistentin. Nein. Wichtig ist: „Wir müssen uns verstehen. Dann musst du mir zuhören können, denn du musst das machen, was ich dir sage. Du musst mich heben können. Und du musst wissen, dass du bei diesem Job nicht selber im Mittelpunkt stehst.“

Ob sie zusammenpassen  würden, die ordentliche, strukturierte Jenny und die flippige Tini? „Lass es uns probieren“, sagten beide an diesem Tag vor sechs Jahren.

Das machen, was Jenny sagt und nicht selber im Mittelpunkt stehen. Diese beiden Dinge sind sehr wichtig, wenn man verstehen will, was Assistenz bedeutet. Und was es nicht bedeutet. „Betreuung“, bedeutet es schon einmal nicht. „Das ist ein Bäh-Wort“, sagt Jenny. „Kinder werden betreut. Hunde werden betreut. Mir wird assistiert. Ich bezahle Assistenten dafür, dass sie mir meine Muskeln ersetzen. Dass sie für mich all das machen, was ich aufgrund meiner Erkrankung nicht kann.“

A2Konkret heißt das: Jenny entscheidet. Wann sie aufsteht. Wann sie schlafen geht. Wann sie isst. Wenn sie um 22 Uhr noch ins Kino oder in eine Bar gehen möchte. Dann gehen sie eben noch ins Kino oder in ein Bar. Jenny ist zwar ein Mensch mit Behinderung, sie bestimmt aber über ihr Leben und ihren Alltag.

Keine Einmischung

Und wenn Jenny sich dazu entscheidet ein Bier zu viel zu trinken oder etwas zu machen, was die Assistenten vielleicht peinlich finden oder für eine dumme Idee halten, dann dürfen und sollen sie ihr keine Ratschläge geben. „Am nächsten Morgen reden wir drüber und sagen, dass es gestern vielleicht etwas wild war“, sagt Tini. „Ja, aber erst am nächsten Morgen“, erwidert Jenny. Keine Einmischung. Sie bestimmt. Denn das ist ihr Leben.

Zu sagen, was sie will und was sie nicht will, hat sie als  Kind in einem Internat für Schüler mit Behinderungen gelernt. Sie waren zu sechst auf einem Zimmer. Wer da nicht auf sich aufmerksam machte, meldete, dass er Durst hat oder aufs Klo muss, der blieb eben durstig oder wurde nass. Privatsphäre? So etwas gab es in ihrem Leben noch nie. Was sie nicht kennt, vermisst sie auch nicht und wenn sie doch einmal ihre Ruhe möchte, sagt sie: „Tini, ich brauche dich gerade nicht.“

Jenny kann noch ihren rechten Arm bewegen. Die anderen Muskeln werden von den Nerven nicht mehr angesteuert. Spinale Muskelatrophie heißt das. Jenny hat es seit ihrer Geburt. Und die Muskeln, die sich aktivieren lassen, werden weniger. Zu Beginn ihres Studiums konnte sie noch ein großes Glas an die Lippen heben, heute geht das nicht mehr. „Es wird permanent schlechter“, sagt sie. Und so braucht Jenny Hilfe für alles, was den Radius ihres rechten Armes verlässt. Aufstehen, anziehen, duschen, Haare machen, Tür abschließen.

A5Doch den Computer und das Smartphone, ihre Zugänge zur Welt, bedient sie selber. Mit ihnen navigiert sie durch die Stadt, checkt welcher Fahrstuhl an welcher U-Bahnstation funktioniert, welches Restaurant barrierefrei ist und wie die schnellsten Zugverbindungen sind.

Und wie ist es für Tini neben Jenny in Warteposition zu verharren? „Ich bin ihre Assistentin. Ihr Muskel. Wenn ich mit Jenny zu Kongressen fahre oder wir uns mit ihren Freunden treffen, bin ich zwar dabei, aber es geht nicht um mich“, erklärt Tini. Am Anfang fiel es ihr schwer, einfach abzuschalten, daneben zu sitzen und darauf zu warten, was sie als nächstes tun soll. „Ich kam mir auch unhöflich vor, mitten in den ganzen Gesprächen auf mein Handy oder in ein Buch zu schauen.“ Inzwischen hält sie das gut aus. Inzwischen kennt sie auch Jennys Freunde, und die Assistenten der Freunde und manchmal ist es eine große lustige Runde, in der sich alle unterhalten und lachen, ob nun Assistent oder nicht.

Ein Leben im Heim? Unvorstellbar

„Mich gibt’s nur um Doppelpack“, sagt Jenny. Und weil Tini sie nicht alleine rund um die Uhr betreuen kann, hat sie ein Team von sechs Assistenten, die sich die Schichten bei Jenny teilen. Jenny ist also Chefin, sucht ihre Mitarbeiter aus, macht die Arbeitsverträge, leitet Teamsitzungen, erstellt die Dienstpläne, schreibt Anträge und rechnet Jahresbilanzen aus. Pro Monat stehen ihr für die Assistenten 15.000 bis 17.000 Euro zur Verfügung, das zahlt das Bezirksamt. „Hilfe zur Pflege im Arbeitgebermodell nach dem SGB XII“ heißt auf Amtsdeutsch Jennys selbstständiges Leben.

Und Jenny erklärt anderen, wie auch sie Selbstständigkeit wagen können. Das ist ihr Studentenjob. Als Peer-to-Peer-Beraterin, als Mensch mit Behinderung für Menschen mit Behinderung. Sie wird angerufen und vermittelt die formalen Voraussetzungen  und praktischen Tipps, hilft bei den Anträgen und beschreibt, wie man Chef über sein eigenes Leben werden kann. Es sind Menschen, die mit 40 oder 60 Jahren noch in Heimen wohnen, ins Bett gehen oder Essen müssen, wenn die Regeln des Heimes es vorschreiben oder die Pfleger Zeit haben. Für Jenny unvorstellbar.

Und wenn sie dann da so sitzt, am Tisch in ihrer Wohnung, mit Tini plaudert, von ihren Reisen nach Kenia und in den Orient erzählt, über ihre Bahnfahrten zu den Kongressen und Vereinstreffen. Wenn sie berichtet, wie sie sich für andere Menschen mit Behinderungen einsetzt und Flashmobs für ein verbessertes Teilhabegesetz organisiert. Wenn sie auf Facebook schreibt, „ausruhen kann ich, wenn ich alt bin“. Bei all dem wird deutlich, was sie meint, wenn sie sagt: „Ich sehe mich als vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft, ich studiere, ich arbeite, ich engagiere mich.“

Abschätzige Blicke

Für Jenny ist ihre Behinderung Normalität, für andere nicht. Da sind die vielen stierenden Blicke auf der Straße, manche interessiert, andere mitleidig oder abschätzig. Busfahrer, die zu faul sind, aufzustehen, um die Rampe auszuklappen. Leute, die mitten im Weg stehen und Jenny und ihren Rollstuhl einfach nicht durchlassen und auch noch dumme Sprüche reißen. Eltern, die ihre neugierigen Kinder von Jenny wegscheuchen, als ob sie ansteckend wäre. Fahrstühle, die kaputt sind. Bürgersteige, die nicht abgesengt sind. Gebäude, die keine Rampen haben. Klos, die nicht barrierefrei sind.

Doch trotz Krankheit und Widrigkeiten: „Es gibt niemanden, den ich kenne, der so ein positives Lebensgefühl hat wie Jenny“, sagt Tini. Und Jenny: „Ich mag an Tini, dass sie so spontan ist, dass sie so viel Reiselust hat wie ich und wir zusammen die Welt entdecken, dass sie so belastbar ist und mein Leben aushält.“

Jenny und Tini. Ein Team.

ArtikelVon: Karl Grünberg, erschienen Publik Forum, Juni 2016