Neues Deutschland, Juli 2014

Sie sind jung. Sie kommen aus Osteuropa. Doch nicht alle Frauen, die sich auf dem Berliner Straßenstrich anbieten, sind freiwillig dort. Der Fall der 18-jährigen Lilliane zeigt, wie Menschenhändler vorgehen. Und dass es den Mut einer Betroffenen braucht, sie vor das Gericht zu bringen.

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Das Licht der Autoscheinwerfer drängt in die Gesichter der Frauen, abtastend, musternd. Die Junge? Oder die Hübsche? Vielleicht die Blonde? Oder die mit den großen Brüsten? Von der Bülowstraße geht es in die Frobenstraße, dann rauf auf die Kurfürstenstraße. Hier gibt es noch mehr Frauen, eine nach der anderen, sie winken, sie locken. Ein Auto hält an, die Scheibe senkt sich, eine Frau kommt angelaufen. „Willst du Spaß?“, fragt sie in das Dunkle des Wagens.  „Was kostet es?“ „20 Blasen, 30 Verkehr“.

Die deutschen Worte klingen auswendig gelernt. Die Beifahrertür geht auf, sie steigt ein und die beiden fahren weg. 18 Minuten später bringt das Auto sie zurück an ihren Platz. Ein Mann stürzt aus einem Cafe. Kurze Haare, stämmige Schultern, im Mundwinkel eine Zigarette, das Klischee eines Zuhälters. Sie gibt ihm das Geld, und schaut wieder auf die Straße, winkt dem nächsten Auto zu, zeigt ihr Gesicht, ihren Körper.

Manche wissen, worauf sie sich einlassen. Andere nicht.

Die Frauen, die sich im Kurfüstenkiez in Berlin-Schöneberg prostituieren, kommen vor allem aus Osteuropa. Manche von ihnen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie ihre Heimat verlassen. Andere nicht. So wie Lilliane. Sie steht für das Schicksal tausender Frauen, die Opfer von Menschenhändlern wurden. Doch ihr Mut zu fliehen und gegen ihre Peiniger auszusagen, macht ihre Geschichte besonders, denn sie führt zu einem Gerichtsprozess, der Einblicke in ein sonst verschlossenes Milieu gibt.

Lilliane war 18 Jahre alt, als sie einen Winter lang auf der Bülowstraße 100 bis 103 fror. Das war ihr Platz, eingeklemmt zwischen einem Videoshop und einem Irish Pup. 52 Schritte, die sie auf und abgehen konnte, weiter durfte sie nicht. Rechts neben ihr stöckelte eine blonde Frau und links von ihr Bianca, von der sie dachte, dass sie ihre Freundin wäre. „Ein Standort, der vor allem von Rumänen frequentiert wird“, wie ein Beamter des Landeskriminalamts später vor Gericht aussagen wird.

Lillianes Bewacher, Sandu und Ionut, hatten es bequemer und wärmer. Sie hockten ein paar Meter weiter im Cafe Bülow. Ein unangenehmer Ort, drinnen sitzen breitbeinige Männer zwischen dreißig und fünfzig Jahren. Die Blicke gehen immer wieder auf die Straße zu den Mädchen. Der normale Besucher wird mit einem schroffen „Kaffee alle“ wieder nach draußen geschubst. Wie sich später vor Gericht herausstellen wird, gibt es noch einen Hinterraum, in dem Geld und Kleidung gelagert wurden und die Frauen sich umziehen konnten.

Lilliane ist ein Opfer von Menschenhandel zum Zwecke sexueller Ausbeutung, so der Fachausdruck. Der Paragraph 232 des Strafgesetzbuch sagt hierzu in einfachen Worten: Wenn jemand die Not eines Menschen ausnutzt und ihn mit List, Gewalt oder Drohungen in einem fremden Land zur Prostitution zwingt, ist das Menschenhandel zum Zwecke sexueller Ausbeutung. Wie viele Frauen Lillianes Schicksal teilen, ist schwer zu schätzen. Polizeiliche Ermittlungen in diesem Milieu sind mühevoll: organisiertes Verbrechen, geschlossene Täterkreise, eingeschüchterte Opfer.

Es braucht jemanden, der sich traut, auszusagen, in diesen Punkten sind sich das Bundeskriminalamt (BKA) und der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Frauenhandel (KOK) in ihren Lageeinschätzungen einig. Wobei letzterer die Zahl der Opfer in Deutschland auf mehrere Zehntausend schätzt. Das sind Dunkelziffern, die im krassen Gegensatz zu den Ermittlungserfolgen stehen. Das BKA zählte für das Jahr 2012 lediglich 612 Opfer in abgeschlossenen Verfahren. Davon stammen 66 Prozent aus Osteuropa. Insgesamt jede zweite ist unter 21 Jahren alt.

Ihre Aussage ist das wichtigste, was die Staatsanwaltschaft hat.

Auch Lillianes Fall wird in die Statistik eingehen. Doch wie schwierig es ist, ihren Bewachern Sandu und Ionut den Vorwurf des Menschenhandels nachzuweisen, zeigte der Prozess, der im Januar und Februar 2014 vor dem Berliner Kriminalgericht Moabit geführt wurde.

Lillianes Aussage ist das wichtigste, was die Staatsanwaltschaft vorbringen kann. Es geht um jedes Detail. Doch reicht das, um die Richter zu überzeugen? Die Verteidigung versucht Widersprüche aufzudecken, Lillianes Aussagen unglaubwürdig zu machen. Ihre Strategie: Lilliane war naiv, aber mit der Prostitution einverstanden, jetzt ist es ihr peinlich, und deswegen versucht sie sich als Opfer darzustellen.

Der zweite Prozesstag ist für Lilliane reserviert. Links von ihr sitzt die Staatsanwältin, daneben die Vertreterin der Nebenklage, rechts die zwei Verteidiger, dahinter die beiden Angeklagten, vor ihr drei Richter und zwei Schöffen, dann noch die Protokollantin und die Übersetzerin. Die Zuschauer nicht mit gezählt, sind das 13 Leute, denen sie ihre Geschichte erzählen wird. Sie setzt an, versucht Worte zu finden, für das was ihr passiert ist, beantwortet die Nachfragen, geduldig und gefasst, stundenlang. Sandu, 37, und Ionut, 27, müde unrasierte Männer, seit einem halben Jahr in Untersuchungshaft, schauen auf den Boden, in die Luft, auf ihre Hände, als ob sie das nichts angeht.

Lilliane erzählt: Dezember 2012, sie steht zum ersten Mal auf der Bülowstraße. Die engen Leggings müssen ihr peinlich sein und die hohen Absätze der Stiefel ungewohnt. Wie war sie nur hierher geraten? Vor ihr rumpelt die U-Bahn, zieht der Bus vorbei und immer wieder Autos, die langsam heran rollen, anhalten und sie mitnehmen. Mehr als zehn Männer sollen es in dieser ersten Nacht werden.

Die Verteidigung hakt nach: Wie viele waren es genau? Bei der Polizei soll sie dreizehn gesagt haben.

Doch zählen lohnt nicht, wenn sich Tage und Männer aneinanderreihen. Ab um 17 Uhr und bis in den frühen Morgen wartet sie auf ihren Platz, hat Sex im Auto, im Freien oder in einem Stundenhotel. Sie kann kein Deutsch, kein Englisch. Doch den Männern scheint es egal, ob sie freiwillig mit ihnen schläft oder nicht. Das Geld geht immer an Sandu, behalten darf sie nichts. Lilliane weint viel in dieser Zeit und sie hat Angst. Auch vor Bianca, obwohl sie ihr doch vertraut hatte.

Von ihr bekommt sie Freier weitergereicht, mit denen sie es auch ohne Kondom machen soll, das bringt 20 Euro mehr. Danach fragt Bianca die Männer, ob Lilliane sich angestrengt hat, ob sie gut war. Zuerst ist Sandu mit den Einnahmen zufrieden und lobt sie sogar. Doch dann kommen weniger Männer. Sandu wird aggressiv, er beschimpft sie und bedroht ihre Familie. Später schlägt er sie ins Gesicht, mit der geballten Faust, dann mit dem Gürtel. Auch Sandu steht unter Druck, er zahlt pro Woche 120 Euro Platzmiete an den Boss der Straße.

Wusste sie wirklich nicht, was sie erwartet?

Die Verteidigung: Wie war es genau? Standen die Preise fest oder konnte sie selber verhandeln? Hat sie auch Freier ablehnen dürfen? Wurde sie die ganze Zeit bewacht? Warum ist sie nicht früher abgehauen. Einmal wurde sie doch sogar von der Polizei kontrolliert. Warum hat sie da nichts gesagt?

Lilliane hat Angst, dass ihre Eltern erfahren, was sie in Berlin tut. Sie sind arm, Landarbeiter, und wohnen in einem kleinen Dorf irgendwo in Rumänien. In die Schule ging Lilliane bis in die achte Klasse, das war so üblich. Danach half sie den Eltern bei der Arbeit. Ihr Vater hat immer versucht sie zu beschützen und zu behüten. Doch sie fühlte sich eingeengt und wollte auch was von der Welt sehen. In diesem Moment taucht Bianca auf und freundet sich mit Lilliane an.

Eines Abends bringt sie zwei ältere Männer mit, die von Berlin schwärmen. Sie trinken, reden von Deutschland und einer Arbeit in einer Bar. Es hört sich aufregend an, ein anderes Leben, raus aus der Armut. Wenn Lilliane das auch will, müssen sie aber jetzt los. „Oh, bitte Lilliane, das wird toll, lass uns fahren, jetzt gleich“, sagt Bianca. Schnell nach Hause, den Pass holen, die Eltern sollen nichts merken. Der Pass wird ihr noch in Rumänien abgenommen, und in Berlin ist alles anders, als versprochen. Wo sollte sie hingehen, an wen sich wenden? Sie ist allein, traut niemanden, kann die Sprache nicht.

Die Verteidigung: Wusste sie wirklich nicht, was sie erwartet oder will sie es jetzt nicht mehr gewusst haben. Sandu, Ionut und Bianca sagen aus, dass Lilliane von Anfang wusste, um was es in Berlin gehen würde. Und wie war das mit dem Pass? Hat sie den in Rumänien abgegeben oder erst in Deutschland? Ging es mit dem Linienbus oder mit dem Auto nach Berlin?

Lillianes Hölle

Lillianes Hölle wäre einfach weiter gegangen, doch Ende Januar ist das Leid größer als die Angst und sie handelt. Sie sitzt im Auto eines Freiers und gestikuliert ihm, sie an einem entfernten U-Bahnhof abzusetzen. Dort bemerken zwei Sicherheitsmänner die weinende Frau in Leggings und Stiefeln, bringen sie zur Polizei. Lilliane sagt aus und die Justiz beginnt zu arbeiten.

Heute sehnt sich Lilliane nach Normalität, einer „sauberen Arbeit“, wie sie sagt, und einer Versöhnung mit ihren Eltern. Die Syphilis, mit der sie sich angesteckt hat, wird behandelt. Noch lebt sie in Deutschland, betreut, in einem Versteck für Frauen.

Nach vier Verhandlungstagen sprechen die Richter das Urteil. Sie glauben Lilliane. Menschenhandel, Zuhälterei und Körperverletzung, für Sandu gibt es drei Jahre und sechs Monate und für Ionut zwei Jahre Haft.

Auf der Bülowstraße 100 bis 103 zwischen Videoshop und Irish Pup steht inzwischen eine neue junge Frau. Leggings, Stiefel, Top. Wo kommst du her? „Aus Rumänien. Willst du Spaß? Blasen 20, Ficken 30.“

Text und Foto: Karl Grünberg, erschienen in Neues Deutschland, Juli 2014