Tagesspiegel, „Mehr Berlin“, Dezember 2013

Der eine wollte erst Jurist werden, die andere Kinder erziehen, die dritte strebte nach einer Karriere als Ingenieurin. Heute arbeiten sie als Domina, sind Barbesitzer oder Boxtrainer. Sechs Berliner, die heute ihren Traum leben und dabei keine Kompromisse eingehen.

Das Spiel mit dem Schmerz

Fabienne Freymadl, 35, Domina, vormals Erzieherin

Da kniet sie nun. Die Domina. Mit knappem Rock und tiefem Ausschnitt, zwischen Bock und gynäkologischem Stuhl. Eben hat Fabienne Freymadl den letzten Kunden zur Tür gebracht, jetzt muss sie den Boden wischen und alles desinfizieren. Kein Tropfen seiner Körperflüssigkeit darf kleben bleiben. Ihre Stirn glänzt vor Schweiß, die Haare gehen durcheinander, die letzte Session war anstrengend. (Weiter: Der große Sprung)

Schnelle, harte Schläge

Ulf Fritzmann, 43 Jahre alt, Kampfsportler und Trainer, vormals Jurastudent

Ulf Fritzmann hat immer schon gekämpft. In West-Berlin aufgewachsen, schlug er sich von der Sonderschule bis aufs Gymnasium durch, wo er die Lehrer damit in den Wahnsinn trieb, dass er alles konnte, ohne etwas dafür zu tun. Fritzmann ist heute 43 Jahre alt und gehört nach eigener Aussage zu den Pionieren des Mixed Martial Arts, kurz MMA, in Deutschland. Der Sport kam Anfang der 1990er Jahre aus den USA und gehört zu den härteren Kampfsportarten: Schlagen, treten, werfen, hebeln, würgen, viel ist erlaubt, da fließt schon mal das Blut, Knochen können splittern. Gewonnen hat, wer seinen Gegner k. o. schlägt oder ihn zur Aufgabe zwingt. Die Kämpfe finden in sechseckigen Käfigen statt, deswegen auch der Begriff Käfigkampf. In Deutschland wurde das lange als brutal und blutrünstig kritisiert. Die Kämpfer taten auch alles dafür, diesem Image zu entsprechen: Tätowierungen, martialisches Auftreten, Milieu- Kontakte, halbnackte Frauen. (Weiter: Der große Sprung)

Trommelndes Herz

Markus „Onkel“ Lingner, 33 Jahre, Schlagzeuger in der Band „Die Ohrbooten“

Markus Lingner wusste mit vier, dass er Schlagzeuger werden wollte. Mit sieben trommelte er drauf los. Hinter ihm stand keine finanzkräftige Familie, die Privatlehrer nach Hause kommen ließ, sondern eine alleinerziehendeMutter aus Berlin-Hellersdorf. Sie ließ den Jungen üben, kaufte ihm seine Instrumente und ertrug den Schlagzeuglärm in der Zweizimmer-Plattenbauwohnung mit dicken Ohrenschützern von der Baustelle. (Weiter: Der große Sprung)

Das Bar-Experiment

Andreas Haake, 44, Antiquar, und Suzan Sensoy, 43, Kellnerin und Immobilienfachfrau, heute Besitzer der „Roten Beete“

Sie könnten ein Buch schreiben. Wenn sie Zeit dafür hätten. Der Arbeitstitel: „Die perfekte Bar“. Es wäre eine Art Laborbericht. Ihr Experiment widmet sich der Erforschung des seltsamen Wesens namens Gast.Was lockt ihn herein? Warum bleibt er? Wann fühlt er sich wohl? Seit fünf Jahren beschäftigen sich Andreas Haake und Suzan Sensoymit diesen Fragen. Sie justieren, korrigieren und schrauben an ihrer Bar „Rote Beete“ in der Schöneberger Gleditschstraße rum, wie zwei Techniker, die einen perfektenMotor bauen wollen, aber nie fertig werden. (Weiter: Der große Sprung)

Die entflammte Weiblichkeit

Birte Amalaya, 34 Jahre, Artistin und Hula-Hoop-Trainerin, vormals Ingenieursstudentin

„Wenn ich das überlebe, gibt es  kein Morgen mehr“, habe sie noch gedacht, während sie über den Lenker ihres Fahrrades auf die Petersburger Straße flog. Sie hörte das Quietschen von Autoreifen, spürte den Schmerz des Aufpralls auf den Asphalt, dann wurde es dunkel. Birte Amalaya war 30 Jahre alt. Eine einzige Prüfung trennte sie noch von einem Job mit einem Einstiegsgehalt von 50000 Euro im Jahr und privater Altersvorsorge. Ihre Arbeitskraft war begehrt: Ingenieursstudium, nachhaltige Energie, Spezialisierung auf Kohlekraftwerkoptimierung. Eine Frau, die Spaß daran hat, sich in technische Probleme zu verbeißen und so lange daran herumtüftelt, bis es läuft. (Weiter: Der große Sprung)

Von Karl Grünberg erschienen im Tagesspiegel, 28.12.2013