Chrismon, Bref, JS-Magazin, 2022 / ©Foto: Marlene Pfau

Die ostdeutsche Kleinstadt Spremberg ist eine Hochburg von Rechtsradikalen. Der evangelische Pfarrer Lukas Pellio kämpft für mehr Weltoffenheit – und dafür, den Ort nicht den Neonazis zu überlassen. Eine Reportage von Karl Grünberg.

Drei Männer am Rande des Marktplatzes grinsen und schauen herüber. Sie sind ganz in Schwarz gekleidet, der große mit einem akkuraten Seitenscheitel. Pfarrer Lukas Pellio schaut zurück. „Das sind ein paar der Neonazis aus der Stadt, die hier die Lage checken wollen. Vielleicht ein bisschen provozieren. Immerhin ist das hier ihr Gebiet. Aber wir lassen uns davon jetzt nicht beirren“, sagt Pellio. Ein Sommerfest wollen er und seine jungen Mittreiter an diesem Samstag im Juni hier feiern. Eines, bei dem jeder willkommen ist. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. „Hoffentlich bleibt es friedlich“, sagt Pellio. Sein Ton ist ruhig, aber ernst. Ernst ist auch die Lage. Es ist noch gar nicht so lange her, dass er und seine beiden Kolleginnen hier auf dem Marktplatz von Neonazis geschubst wurden.

Lukas Pellio ist evangelischer Pfarrer in Spremberg. Das ist ein Städtchen mit rund 22 000 Einwohnern im Süden von Brandenburg, gleich hinter Cottbus, im letzten Winkel von Ostdeutschland, kurz vor der Grenze zu Polen. Ehemals Industriehochburg, die Türme des Kohlekraftwerks Schwarze Pumpe ragen am Horizont auf. Es gibt ein kleines Kino, aber sonst wenig für junge Leute, keine Disco. Drumherum liegen Dörfer, Wälder und Seen. Bei der Bürgermeisterwahl im vergangenen Jahr stimmten in der Stichwahl 40 Prozent für den Kandidaten der AfD, 60 Prozent für die parteilose Kandidatin, hinter der sich alle anderen Parteien versammelt hatten. Die Rechten treffen sich auf dem Marktplatz, am Busbahnhof, die Innenstadt scheint ihnen zu gehören. Die Nichtrechten haben noch den Skatepark – und neuerdings auch die Kirche.

Gehen oder bleiben sei eine Frage, die viele junge Menschen umtreibe, sagt Pellio. Ihn beschäftige, was er tun könne, um diejenigen zu stärken, die bleiben. „Wir wollen nichts Radikales. Wir wollen nur, dass Spremberg eine Stadt ist, in der alle Menschen willkommen sind.“

Pfarrer in Turnhose

Pellio verbindet sein Handy per Bluetooth mit den Lautsprecherboxen. Hip-Hop dröhnt über den Marktplatz. „Auf geht’s“, ruft der Pfarrer, „zwei Stunden haben wir noch, dann muss alles stehen!“ Junge Leute stellen Bänke auf, bauen Pavillons zusammen, füllen Luftballons mit Helium, legen Stromkabel. Der Schweiß läuft, die Sonne knallt vom Himmel, Fußgänger schauen skeptisch. Sogar die Bürgermeisterin will nachher noch eine Rede halten. „In Berlin wäre das eine popelige Veranstaltung. Hier ist es umso wichtiger“, sagt Pellio.

©Foto: Marlene Pfau

©Foto: Marlene Pfau

Mitte 30 ist er und eigentlich das personifizierte Gegenteil von Spremberg. Mal predigt er im Kapuzenpulli, dann wieder hat er seine Fingernägel lackiert, mal hat er kurzrasierte Haare, aktuell
einen Langhaar-Irokesenschnitt. Heute trägt er Turnschuhe, Turnhose und Longsleeve. Am wohlsten fühlt er sich da, wo das Leben bunt und vielfältig ist.

Die Ausbildung zum Pfarrer, sein Vikariat, hat Pellio in Berlin gemacht, nebenbei hat er sich als Gefängnisseelsorger die Nöte der Insassen angehört. „Pfarrersein ist eine Frage der Gerechtigkeit. Ich bin für die Schwachen da.“ Pellio ist in einem Gemeindehaus aufgewachsen. Seine Mutter war die Sekretärin, sein Vater der Hausmeister.

Vor zwei Jahren haben Pellio und zwei Pfarrerinnen in Spremberg begonnen. Ein junges Team, ein neuer Anfang für eine kleiner werdende Gemeinde – so die Idee. Zwei Jahre wollten sie sich zunächst geben, um zu sehen, ob sie in Spremberg zurechtkommen.

Eine junge Frau steht in der Mitte des Platzes, sie begutachtet einen Zettel, darauf der Plan für das Fest. „Dahinten muss der Pavillon fürs Essen hin „, ruft sie den einen zu. Anne heißt sie, ist 23 Jahre alt, trägt ein Käppi, darunter schauen ihre langen schwarzen Haare hervor. Sie spricht schnell, lacht schnell, scheint überall zugleich zu sein. „Im letzten Jahr habe ich zufällig das Strassenfest entdeckt und fand es toll. Dann habe ich gehört, dass man beim Unteilbar-Bündnis mitmachen kann. Heute organisiere ich den Aufbau des Festes, obwohl ich mit Kirche nichts am Hut habe“, sagt Anne.

©Foto: Marlene Pfau

Es war Pellios Idee, ein Unteilbar-Bündnis aufzubauen, das für ein offenes Spremberg steht und bei dem jeder mitmachen kann, egal ob Mitglied in der Kirche oder nicht. Unteilbar-Gruppen gibt es in ganz Deutschland, sie alle setzen sich gegen Ausgrenzung ein. In Spremberg umfasst die Gruppe zwanzig bis dreißig Leute, Jung wie Alt, bei jeder Aktion kommen mehr hinzu. Da war das Straßenfest vom letzten Jahr, dann eine „Geht wählen“-Aktion im September, am 9. November haben sie Gedenkstationen in der Stadt organisiert, um an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus aus Spremberg zu erinnern. Die Biografien der Opfer haben sie recherchiert. Zu Beginn des Ukrainekrieges gab es eine Solidaritätsdemonstration. Im Herbst wollen sie Stolpersteine in Spremberg verlegen und dazu eine Gedenkveranstaltung organisieren. Einmal im Monat trifft sich das Bündnis in der Kirche, plant, redet, lacht.

Argumente gegen Parolen

Auch Anne kommt seit einem Jahr zu den Treffen. „ Ja, ich war skeptisch, Kirche und so, aber das hat sich schnell gelegt. „ Sie ist eine von jenen jungen Leuten, die in Spremberg bleiben möchten. Derzeit studiert sie Soziale Arbeit in Cottbus, pendelt mit dem Zug dorthin. Ihren Nachnamen will sie lieber nicht nennen, fotografiert werden will sie auch nicht. Sicher ist sicher. „Ich mag die Natur, meine Familie ist hier, ich bin hier groß geworden“, sagt Anne.

Doch sie kennt auch die Sprüche von Leuten in ihrem Alter in Spremberg, die Abwertungen von Ausländern, Juden, Schwulen und Frauen. Als es noch eine Disco in Spremberg gab, ist sie dort nicht hingegangen, weil es immer Stress mit den Rechten gab. Aber sie möchte unterscheiden, nicht jeder sei ein Nazi, nicht alle soll man gleich verurteilen und ausschließen. „Viele von denen würden von sich sagen, dass sie einfach Leute vom Land sind. Ich denke, dass wir genau mit denen reden sollten.“

Eine Woche vor dem Fest hat das Unteilbar-Bündnis in einem Training geübt, wie man am besten gegen rechte Parolen argumentieren kann. Dass es nicht immer bei Worten bleibt, hat das Pfarrteam vor ein paar Monaten selbst erlebt. Es war Feierabend, Pellio saß mit seinen zwei Kolleginnen auf einer Bank am Marktplatz. Eigentlich wollten sie in das Restaurant, aber es hatte geschlossen. Auf dem Platz standen noch eine Menge Kinderschuhe und Kuscheltiere – eine Aktion der örtlichen Querdenker-Bewegung gegen die Corona-Massnahmen.

©Foto: Marlene Pfau

Eine Frau, um die 50 Jahre alt, trat auf den Marktplatz, in der Hand eine Plastiktüte. Sie sammelte die Schuhe ein, so berichtet es Pellio. Plötzlich stiegen vier große Männer aus einem Fahrzeug, gingen auf die Frau zu und bedrängten sie. Pellio und seine Kolleginnen traten dazu, um die Frau in Schutz zu nehmen. Die Männer telefonierten, und ein paar Minuten später waren drei weitere Autos da. Die Männer schubsten Pellio, seine Kolleginnen und die Frau vom Marktplatz. „Das hat mich echt erschreckt, wie schnell die Verstärkung organisiert hatten. Das waren alles
Neonazis aus der Umgebung.“ Auch andere bekommen den Hass von rechts zu spüren. Vor einigen Jahren wurde das Spremberger Büro des damaligen SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke angegriffen. Unbekannte beschmierten die Redaktion der Lokalzeitung, nachdem diese über ein Treffen von Rechtsextremen berichtet hatte. Und in den Schulen der Stadt würden sich die Schüler heute wieder mit dem Hitlergruß grüßen – in der Kantine, auf dem Schulhof, aus den Fenstern heraus, berichten die jüngeren Mitglieder des Unteilbar-Bündnisses.

Robert Fischer kann das mit der Schule bestätigen. Im letzten Schuljahr waren seine beiden Kinder noch in der Grundschule. Aber seine große Tochter, 12, kam immer häufiger unglücklich nach Hause. Sie berichtete davon, wie ihre Mitschüler schlimme Kommentare und Beschimpfungen von sich gaben, „du Judensau“ zum Beispiel. „Das ist erschreckend, was das für eine Normalität ist. Ich frage mich, woher die Kinder das haben. Sie haben doch überhaupt keinen Bezug zu diesen Dingen“, fragt sich Fischer. Er spricht ruhig und bedacht, wirkt nicht wie einer, der übertreibt. 38 Jahre ist er alt, in Spremberg geboren und einfach hiergeblieben, wie er sagt. Früher hat er bei der Caritas gearbeitet, nun ist er selbständiger Berufsbetreuer. „Spremberg ist eine schöne Stadt, in der man sich kennt. Das mag ich. Eigentlich.“
Vergiftetes Klima

Es ist dieses „Eigentlich“, das ihn im letzten Jahr zum Unteilbar-Bündnis gebracht hat. Er erlebe es in den letzten Jahren immer häufiger, ob auf Festen, im Bekanntenkreis, auf dem Marktplatz dass die Gespräche der Menschen vergiftet schienen, so Fischer. Es gebe kaum normalen Meinungsaustausch mehr, kaum Grauzonen, kaum ein Abwägen der Argumente. Sondern nur ein Dafür oder Dagegen, und dann werde gleich „ mit Hetze und nach drei Bier auf die Regierung geschimpft und rechtes Gedankengut vorgetragen“.

Ein Glück, dass sich alle Parteien zusammengetan hätten, um in der Stichwahl die jetzige Bürgermeisterin zu wählen und den AfD-Kandidaten scheitern zu lassen. Dann aber sei genau das auch bedenklich, denn ein wirkliches demokratisches Ringen um politische Inhalte werde dadurch verhindert. Stattdessen werde derjenige gewählt, den alle irgendwie noch „akzeptabel „ fänden, was langfristig auch keine Lösung sei.

Fischer erinnert sich noch gut, wie Anfang der neunziger Jahre ein Russlanddeutscher in seiner Schulklasse auftauchte. Seine Mutter sagte ihm, dass er sich um seinen neuen Mitschüler kümmern sollte, damit der sich nicht so einsam und alleine fühle. Fischer tat es. Im Unteilbar-Bündnis möchte er genau dasselbe wieder tun, nämlich etwas gegen diese Spaltung der Gesellschaft
unternehmen.

©Foto: Marlene Pfau

Die Feststände sind aufgebaut. Eine Gruppe von vielleicht zwanzig Frauen und ihre Kinder kommen hinzu. Sie grüßen, stellen Teller mit arabischem Essen bereit. Die Kinder schwärmen aus, lassen sich die Gesichter schminken, malen und stanzen Buttons. T-Shirts werden bedruckt. Immer mehr Leute kommen, auch einige ältere Gemeindemitglieder. Ein Pärchen zum Beispiel, es sitzt im Schatten, schaut sich das Treiben und den neuen Pfarrer an. Gut finden beide, dass etwas passiert und dass der
Pfarrer so einen Wirbel macht.

Aber nicht alle sehen das so. Im Frühjahr hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Studie „Zwischen Nächstenliebe und Toleranz“ veröffentlicht. Darin steht, dass Gemeindemitglieder zum grössten Teil ein Spiegel der Gesellschaft sind, also nicht mehr oder weniger tolerant sind, nicht mehr oder weniger Vorurteile haben. Der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen rief dazu auf, sich von den „ Neuen Rechten „klar abzugrenzen, aber niemanden vorschnell auszuschließen.

Noch mehr junge Leute kommen, begrüßen sich. Franziska heißt eine von ihnen. Sie sei queer, sagt sie, will sich keinem Geschlecht zuordnen, und in einer kleinen Stadt wie Spremberg wissen das viele. Immer wieder würden ihr Beleidigungen hinterhergerufen oder ihr werde Gewalt angedroht. „ Das Fest ist eine Art Schutzzone, hier sind alle freundlich zu mir.“ Franziska wird später eine Rede über ihre Erfahrungen an der Schule halten. Sie wird leise sprechen, ihre Stimme wird zittern, aber das macht nichts, Hauptsache, sie hat sich getraut.

Durch die Stadt nur in Begleitung

Eine Schutzzone bräuchten auch Corinna Züge und Jorge Junco. Die beiden sind Anfang sechzig, seit über dreißig Jahren ein Paar, seit über dreißig Jahren wohnen sie auch in Spremberg. Sie ist Lehrerin am Gymnasium. Er ist Netzwerkadministrator in einer Firma. Sie kommt aus Deutschland, er aus Kuba. Sie hat helle Haut, er dunkle. „Obwohl wir hier schon so lange leben und jeder uns kennt, werden wir, wird aber vor allem mein Mann angestarrt und mit Sprüchen belegt“, sagt Corinna Züge. Wollen sie in ein Restaurant gehen, fahren sie dorthin nur mit dem Auto. Einen Stadtbummel machen sie nur mit Freunden, denn dann werden sie in Ruhe gelassen.

©Foto: Marlene Pfau

Mit der Zeit haben sie sich an die Situation gewöhnt. Aber vor etwas mehr als einem Jahr ist etwas passiert, das eine Grenzüberschreitung für sie darstellte: Jemand hatte bei ihrem Auto die Radmuttern von allen vier Rädern gelöst. „ Das geht nur mit einem Werkzeug „, sagt Züge. Zum Glück bemerkten sie es. Die Anzeige verlief ins Leere. Doch sie wandten sich auch an den Verein Opferperspektive, der sich um die Opfer von rechter Gewalt kümmert. Der Berater erzählte ihnen von Pfarrer Pellio und dem Unteilbar-Bündnis.

 „Wir gingen hin und fühlten uns sofort wohl, denn da sind Menschen, von denen Impulse ausgehen“, sagt Züge. Seitdem kommen sie zu den Treffen, planen die Aktionen mit. Trotzdem: Sobald die beiden in Rente sind, werden sie es ihren inzwischen erwachsenen Kindern nachtun. „Die sind weggezogen und wollen auch nie wiederkommen. Was die hier alles aushalten mussten. Vieles haben sie mir gar nicht erzählt“, sagt Corinna Züge. Solange aber wollen Corinna und Jorge noch um ihr Spremberg kämpfen.

Jetzt tritt eine junge Frau ans Mikrofon, sie begrüßt das Publikum, erklärt das Programm, erteilt der Bürgermeisterin, Franziska und den anderen Rednern das Wort. Sonnenbrille im Haar, kurze Jeanshose. Lässig und selbstbewusst wirkt sie. Auch sie heißt Anne, 19 Jahre ist sie alt, gerade hat sie ihr Abitur gemacht. Sie und ihre Mutter haben mit Pellio das Unteilbar-Bündnis in Spremberg gegründet, ihr Vater macht inzwischen auch mit. Anne ist eine von denen, die weggehen, erst ein Praktikum in Berlin, dann ein Studium, so der Plan. „ Mich zieht es in die Welt „, sagt sie.

Die andere Anne kommt hinzu: „Aber irgendjemand muss doch hierbleiben. Es können doch nicht alle Guten wegziehen.“ Immerhin hat Pfarrer Lukas Pellio eine gute Nachricht für sie: Er und seine zwei Pfarrkolleginnen haben sich entschieden. Sie wollen die nächsten Jahre in Spremberg bleiben.

Text: Karl Grünberg, erschienen im JS-Magazin, Chrismon und Bref, 2022

Fotos: © Marlene Pfau, www.instagram.com/marlenepfau/?hl=de