Tagesspiegel, Radfahren-Magazin, 2021 / ©-Foto: Stefan Haehnel

Berliner Radsport-Legende Jens Voigt: Er lieferte sich Kopf-an-Kopf-Rennen bei 44 Grad, startete 17-mal bei der Tour de France und beendete seine Karriere mit einem Weltrekord. Ein Treffen im Grunewald. Von Karl Grünberg.

Irgendwann hatte Jens Voigt sich genug gequält, hatte genug Siege errungen und noch mehr Niederlagen eingesteckt, war gestürzt und wieder zusammengeflickt worden. Oft genug war er die Berge hochgestrampelt, um dann wieder hinabzurasen, mit 80 Stundenkilometern und einer Menge Todesangst. „Das muss man sich mal vorstellen, zwischen dir und dem Asphalt ist nichts, außer einem dünnen Hemdchen und einem bisschen Fahrradhelm.

Mit jedem Kind, was zu Hause dazu kam, habe ich vor den Kurven stärker abgebremst“, sagt er, der ehemalige Radrennprofi. Irgendwann war es dann da, dieses Gefühl, dass es nun an der Zeit wäre, mit all dem aufzuhören. Die meisten Radprofis beenden ihre Karrieren in den Dreißigern. Voigt ist zu diesem Zeitpunkt bereits über 40.

33 Jahre hatte Voigt bis dahin auf dem Fahrrad gesessen, 850.000 Kilometer abgerissen. Nun, 2014, sollte Schluss sein. Nie wieder Tour de France. Nie wieder diesen großen Jubel. Nie wieder 1000 Kehlen, die „Jensie, Jensie“ brüllen, nie wieder Siegertreppchen und Adrenalinrausch. 

Doch wie steigt man nach so langer Zeit eigentlich aus? Wie baut man sich nach der Karriere ein neues Leben auf?

Jens Voigt sitzt im Cafégarten am Rande des Berliner Grunewalds und trinkt warme Milch mit Honig. Es ist ein schöner Spätsommermorgen. Voigt ist in voller Fahrradklamotte zum Interview gekommen: Radschuhe, enge Radhose, enges Hemd, Helm und Sonnenbrille. Sein 11.000-Euro-Rennrad lehnt an der Mauer.

„Zwischen dir und dem Asphalt ist nichts.“ © Stefan Haehnel / http://www.stefanhaehnel.com

„Sie sind doch der Jens?“, fragt ein älteres Ehepaar

Er redet laut, jeder kann zuhören, das stört ihn nicht. Er wohnt ja hier um die Ecke und kennt eh jeden Zweiten, und jeder Zweite kennt ihn. Da kommt ein älteres Ehepaar an den Tisch, druckst etwas herum, spricht ihn schließlich an. „Sie sind doch der Jens?“ „Jawoll.“ „Dürfen wir ein Foto mit Ihnen machen?“ „Aber natürlich.“ „Wir erinnern uns noch genau, wie wir Sie bei dem Weltrekord im Fernsehen gesehen haben. Das war klasse.“ „Mir hat’s auch gefallen, ich hab ja auch gewonnen.“

Gewonnen hat Jens Voigt insgesamt 65 Mal, die Deutschlandtour 2006 und 2007 zum Beispiel, oder das Critérium International 2007, 2008 und 2009. Doch der Beste, Schnellste und Siegreichste war er nicht. Das sagt er auch. „Das Leben teilt dir Karten aus, mit denen musst du spielen. Es hilft überhaupt nichts, neidisch auf die Karten der anderen zu schauen, weil du diese einfach nicht hast.“ Das ist typisch Jens Voigt.

Coachingsprüche, aber mit der ehrlichen Schnauze eines Berliners

Er hat so eine Art, von seinen Erfahrungen zu erzählen, dass es weise und frech zugleich klingt. Coachingsprüche, aber nicht im Zen-Yoga-Guru-Stil, sondern mit dieser etwas rotzigen, ehrlichen Schnauze eines Berliners, der seine Kindheit in Ostdeutschland, in Mecklenburg-Vorpommern verbracht hat.

Er kennt hier jeden Zweiten, und jeder Zweite kennt ihn. Voigt beim Gespräch am Rand des Grunewalds. © Stefan Hähnel, http://www.stefanhaehnel.com/

Sein Vater war Schlosser und Malocher, auf dessen Haut man heute noch die Brandnarben von dem heißen Metall sieht. Dieser Vater hatte einst zu dem kleinen Jens gesagt: „Junge, vielleicht kannst du nicht mehr, vielleicht hast du Hunger oder Durst, doch der Geist muss den Körper kontrollieren, nicht andersherum.“

Das Leben teilt dir Karten aus, mit denen musst du spielen. Es hilft überhaupt nichts, neidisch auf die Karten der anderen zu schauen.

Jens Voigt

Genau das ist auch Jens Voigts Geheimnis. „Ich war kein Weltklasse-Sprinter, kein Weltklasse-Bergfahrer und kein Weltklasse-Zeitfahrer“, sagt er. Was er aber konnte, war malochen, wie sein Vater. „Ich hatte einen großen Motor, ich war bereit zu leiden und konnte recht lange recht schnell fahren.“ Übersetzt heißt das: Immer, wenn die Umstände widrig wurden, wenn es schlechte Straßen, schlechtes Wetter oder starken Wind gab, „dann habe ich angegriffen“.

Der vielleicht glücklichste Tag in seinem Leben

2006 zum Beispiel. 13. Etappe der Tour de France. Es war brüllend heiß, 44 Grad. Alle anderen Radprofis mühten sich über den Asphalt. Nur Jens Voigt nicht. Jetzt war seine Stunde gekommen. Gleich am Anfang setzte er sich von der Hauptgruppe ab und lieferte sich 209 Kilometer lang ein Wettrennen an der Spitze, zuletzt mit einem einzigen anderen Fahrer, dem Spanier Oscar Pereiro.

Am Ende gewann Jens Voigt. Das Hauptfeld lag abgeschlagen 29 Minuten zurück. „Das ist der vielleicht glücklichste Tag in meinem Leben. Ich bin gar nicht müde. Ich könnte gleich noch mal aufs Rad steigen“, sagt er damals in die Mikrofone der Journalisten.

17-mal war Jens Voigt bei der Tour de France dabei. Es gibt nur einen anderen Menschen, der öfter an diesem größten, wichtigsten und sicher auch härtesten aller Radwettkämpfe teilgenommen hat. Der Franzose Sylvain Chavanel, der von 2001 bis 2018, also 18 Mal in Folge, bei der Tour de France startete.

© Stefan Haehnel / http://www.stefanhaehnel.com

Eine Tour, die 21 Etappen andauert, die zwischen 3000 und 3500 Kilometer lang ist, bei der pro Tag bis zu 5500 Höhenmeter überwunden werden müssen. Das muss man erstmal schaffen. „Wir schauen gerne auf die Gewinner. Aber für mich ist jeder, der eine Tour de France durchhält und dann in einem Stück in Paris einfährt, ein Held“, sagt Voigt.

40, 41, 42. Längst galt er als der Opa unter den Radprofis

Durchhalten, abmühen, abarbeiten und seinen müden Beinen sagen: Haltet die Klappe, ich bin stärker als ihr. Das machte er auch noch mit 40, mit 41, mit 42 Jahren. Längst galt er als der Opa unter den Radprofis. Manche seiner Konkurrenten waren halb so alt wie er. Doch Jens Voigt fuhr und fuhr immer weiter und weiter. Irgendwie brauchte er all das noch: das Fahrrad, den Jubel, die Quälerei.

Wenn nur das elendige Thema Doping nicht wäre. Da waren die Skandale um die großen Radrennfahrer wie Lance Armstrong oder auch den Deutschen Profi Jan Ullrich. Auch mehrere Fahrer des Teams CSC, für das Voigt sechs Jahre fuhr, sind des Dopings überführt worden. Jens Voigt nie.

Er selber sagt, dass er vom Doping in seinem Team nichts mitbekommen hat. Andere sagen, dass das nicht sein kann. Er selber sagt: „Auf gar keinen Fall wollte ich was mit dem ganzen Dreck zu tun haben. Doping ist nicht einfach nur falsch. Doping ist gefährlich, es ruiniert die Gesundheit und zerstört einfach alles.“

Tatsächlich ist das mit dem Aufhören gar nicht so einfach. Den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen und eine Aufgabe für das weitere Leben finden. Abtrainieren, damit das gewaltige Sportlerherz wieder auf Normalgröße schrumpfen kann. Sportlerherzen haben oft das doppelte Herzvolumen von untrainierten Menschen, wie der Sportarzt Kurt Moosburger schreibt. Die Finanzen rechtzeitig geregelt haben. Und wo kriegt man jetzt den ganzen Ruhm und Jubel her, den man vorher eingefahren hat? Den Kick?

Wenn es etwas gibt, das er bereut, dann ist es die verlorene Zeit mit der Familie

„Ich kenne zwei Kategorien von Sportlern“, sagt Jens Voigt, „die einen sagen, dass sie eine schöne Karriere gehabt haben, dass sie glücklich waren und dass es jetzt einfach gut ist. Alles erlebt, alles gefahren. Die schaffen es auch, sich ein Leben danach aufzubauen.“ Die anderen würden in jedem zweiten Satz sagen, ‚hätte ich doch‘ und ‚wenn ich noch mal‘. „Da merkst du ein gerütteltes Maß an Bitterkeit bei diesen Leuten. Auf keinen Fall wollte ich so enden, denn das hätte mich zu einem schlechteren Menschen, einem schlechteren Ehemann und Vater gemacht“, sagt Jens Voigt.

Voigt ist durch und durch bodenständig. Es gibt kaum ein Interview, in dem er nicht auf seine Familie zu sprechen kommt. / © Stefan Hähnel, http://www.stefanhaehnel.com

Und das ist sein zweites Geheimnis. Jens Voigt ist durch und durch bodenständig. Mit seiner Frau ist er seit 25 Jahren zusammen, sie haben sechs Kinder, alle wohnen noch unter einem Dach, obwohl die zwei größeren Kinder schon studieren. Es gibt aus den letzten 20 Jahren kaum ein Interview, in dem er nicht irgendwann auf seine Familie zu sprechen kommt.

Wenn man ihn fragt, ob es was gibt, was er in seiner Karriere bereut, dann spricht er von der verlorenen Zeit mit der Familie und dass er die Geburt eines seiner Kinder verpasst hat. Wenn man ihn fragt: Was ist schöner, wenn er von allen sechs am Flughafen abgeholt wird und sie ihm in die Arme stürmen, er dabei fast umfällt, oder auf dem Siegertreppchen zu stehen? Dann ist es klar die Familie.

Wenn seine Kollegen ins Winterquartier gefahren sind, nach Südafrika, nach Gran Canaria, blieb er in Berlin, bei seiner Familie, und quälte sich eben bei strömenden Regen und bitterer Kälte den Teufelsberg hoch.

Bevor er aufhörte, wollte er es noch einmal allen beweisen

Dann, im Jahr 2014, trat Jens Voigt seinen letzten Wettkampf an. Er war 42 Jahre alt und merkte, dass er nicht mehr die Leistung brachte, dass er sich und seinen Körper nicht mehr zwingen konnte. „Ich war mental völlig leer“, sagt er. Doch bevor er verschwand, wollte er ein Fanal setzen, wollte es noch einmal allen und vor allem sich selbst beweisen, mit einem Weltrekord. Wie viel Strecke kann man innerhalb einer Stunde auf einer Radrennbahn machen?

Neun Jahre war der alte Weltrekord von 49,7 Kilometern ungeschlagen. Jetzt wollte Jens Voigt mit einem letzten Kraftakt angreifen. Akribisch hatte er sich vorbereitet. Einen Monat Diät gehalten, vor Ort trainiert, hatte Spezialausrüstung bereitgestellt bekommen. Berechnet, dass er nicht weniger als 18 Sekunde pro Runde brauchen darf, dass er mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 50,3 Stundenkilometer fahren muss.

Dann war er da, der 18. September 2014, der Tag nach seinem 43. Geburtstag. 3000 Zuschauer jubelten im Velodrome Suisse nahe Bern, das Fernsehen übertrug live, im Internet gab es einen Stream. Weltweit schauten Millionen Menschen zu, wie Jens aus Deutschland 60 Minuten lang im Kreis fuhr. Jens quälte sich, Kilometer um Kilometer, der Rücken tat weh, gleichzeitig musste er aufpassen, nicht zu schnell werden, um dann nicht zu erschöpft zu sein. Der Kommentator im Fernsehen brüllte ins Mikrofon: „Jetzt ist es so weit, Jensie bricht den Weltrekord. Dieser Name und dieses Rennen wird noch lange da sein, auch wenn er heute seine Karriere beendet.“

25 Metallstücke hat er im Körper

Und nun? Kann er überhaupt ohne seine tägliche Portion Quälerei? Jetzt lacht Voigt, steht auf, setzt sich auf sein Fahrrad und fährt Richtung Teufelsberg. Völlig entspannt lässt er sein Rad auf dem Asphalt dahinsurren. Dann hebt er seine Hand. In dem einen Finger ist eine Schraube drin. In der anderen Hand sind Metallplatten verbaut.

33 Jahre habe ich alles gegeben, und nun habe ich es verdient, mal ein paar Jahre ruhiger zu leben

Jens Voigt

Jetzt berichtet er von den insgesamt 120 Stichen, mit denen sie seine Ellbogen, seine Schultern, Hüften und Knie wieder zusammengeflickt haben. 75-mal ist er gestürzt, 25 Metallstücke hat er im Körper, elfmal waren seine Knochen gebrochen. „33 Jahre habe ich alles gegeben, und nun habe ich es verdient, mal ein paar Jahre ruhiger zu leben.“


© Stefan Hähnel / http://www.stefanhaehnel.com

Ruhiger leben, heißt bei Jens Voigt, dass er seine Kinder zur Schule bringt und wieder abholt. Dass er Gartenarbeiten und Haushalt macht. Dass er mit seinen Hunden spazieren geht. Dass er sich dann aber doch wieder aufs Rad setzt und Charity-Fahrten für die Krebsforschung fährt. 24 Stunden lang, 100mal den Berliner Teufelsberg hinauf und wieder hinunter, insgesamt ergibt das die Höhe des Mount Everest. 25.000 Euro brachte das. Oder sein Marathonexperiment, sieben Tage hintereinander 42 Kilometer laufen, auch das für den guten Zweck.

Für Eurosport kommentiert er als Experte die Tour de France, und tatsächlich klingelt sein Handy während der kleinen Ausfahrt im Grunewald zweimal. Journalisten sind dran, die von ihm dieses Statement oder jene Einschätzung wissen wollen. Und schließlich ist er für sein letztes Team noch als Markenbotschafter unterwegs. Testet neues Material, tritt auf Veranstaltungen auf, ist bei Filialeröffnungen dabei.

© Stefan Hähnel / http://www.stefanhaehnel.com

Was es nicht gibt, sind private Eskapaden und finanziell riskante Abenteuer, wie sie viele Ex-Profis aus dem Sportbereich durchexerziert haben. Doch das würde zu Jens Voigt auch gar nicht passen. Nie abgehoben, nie teure Luxusartikel gekauft, aber auch nie Spitzenhonorare abgegriffen. „Entgegen landläufiger Meinung bin ich weit davon entfernt, Millionär zu sein“, sagt er. Doch das macht nichts. Ihm und seiner Familie geht es gut. Er weiß, was er geschafft hat, hat seinen Teil vom Ruhm abbekommen und ist dabei immer er selbst geblieben, Jensie, der Malocher-Junge aus Mecklenburg-Vorpommern.

Von: Karl Grünberg, erschienen im Sommer 2021, im Tagesspiegel und im Radfahren-Magazin. Foto: Stefan Hähnel, https://www.stefanhaehnel.com/