Juni 2017, Publik Forum

Jeden Tag ein Lob und jede Woche ein Gespräch mit dem Tutor: Die Quinoa-Schule in Berlin-Wedding will alle ihre Schüler zum Abschluss führen – mit intensiver Betreuung und mit Konsequenz.

Sie strömen in den Klassenraum, die Problemschüler aus dem Wedding. Die, von denen es heißt, dass aus ihnen nichts werde. Die Jungens haben die Kapuzen ins Gesicht gezogen. Sie lachen, schubsen sich. Die Mädchen, einige ruhig, andere selbstbewusst, ein paar mit Kopftuch, die meisten ohne. So weit, so normal für eine Schule in einem Bezirk, in dem fast jeder zweite Schüler mit Sprachschwierigkeiten eingeschult wird und jeder dritte Schüler ohne Abschluss von der Schule geht.

Vorne links sitzt Mario. Er ist ein kleiner und quirliger, kluger Junge. Aber einer, der nicht merkt, wenn es besser wäre aufzuhören, mit Quatsch machen, mit Klassen-Clown spielen. Heute wird er zweimal die rote Ampel kriegen und ein Konsequenz-Gespräch mit der Lehrerin. In der Mitte hinten sitzen Fatima und Memet. Sie, klein und zierlich, macht mit, will sich konzentrieren. Doch er, groß und bärig, ist einer, der sagt: „Ich kann das eh nicht.“ Er lässt sich von allem ablenken und lenkt selber ab, am liebsten Fatima. Er haucht sie an, klaut ihre Stifte und schreibt bei ihr ab. Vorne rechts sitzen die Engagierten, Mädchen und Jungs, die sich melden und still vor sich hinarbeiten. 26 Schüler. Bei nur zwei von ihnen sind Eltern als auch Großeltern in Deutschland geboren. Das ist die 8. Klasse der Quinoa-Schule. Einer Privatschule, die vor drei Jahren angetreten ist, um einiges anders zu machen. Ihr Ziel: Keiner wird zurückgelassen. Jeder Schüler soll mit einem Abschluss die Schule verlassen. Ihre Methode: Konsequenz und intensive Betreuung. Doch wie sieht das genau aus?

Die Löwenbändigerin

Quinoa-Schule im Wedding Berlin, Reporter Karl Grünberg

Es ist 8:30 Uhr, ein Gong ertönt. Juliane Schäfer, die Klassenlehrerin, schaut in die Runde. Eigentlich unterrichten sie immer zur zweit, doch heute ist die Kollegin krank geworden. Hinter hier läuft eine Stoppuhr, per Beamer auf das digitale Whiteboard projiziert. Sie ist ein Signal an die Jugendlichen: Unterrichtszeit ist wertvoll, verschwendet sie nicht. Jedesmal, wenn gequatscht wird, die Klasse laut ist und nicht arbeitet, lässt Frau Schäfer die Uhr laufen.

Jung und zierlich sieht die 31-jährige Lehrerin aus, nicht wie eine Löwenbändigerin, nicht wie eine, der man zutraut, einen Haufen Wedding-Kids zu Ordnung und Disziplin anzuhalten. Aber das ist nur der erste Eindruck, denn ihre Stimme wird Frau Schäfer in den nächsten 90 Minuten, so lange dauert hier ein Block, kein einziges Mal erheben. Muss sie auch nicht, denn dann passiert es. Die Schüler werden leise, hier wird noch kurz getuschelt, da noch schnell ein Zettel geworfen. Dann schlägt Schäfer das zweite Mal auf den Gong und es ist ruhig in der Klasse. So ruhig, dass jedes Rascheln überdeutlich zu hört ist. Die Uhr stoppt. Eine Minute hat es gedauert. Das ist gut.

„Danke, dass wir jetzt anfangen können. Danke, Murat, dass du nach vorne schaust und leise bist. Danke, Hakim, dass du deine Unterrichtsmaterialien schon auf dem Tisch hast“, sagt Frau Schäfer. Dieses „Danke“ hört sich ungewohnt an, aber Loben gehört zum Schulkonzept. Nicht nur ermahnen, sondern auch Positives hervorheben, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. „Die Schüler sollen sehen, dass sie wahrgenommen und geschätzt werden“, erklärt Juliane Schäfer bei einem späteren Gespräch. Lehrer rufen auch schon einmal bei den Eltern an, um die Schüler ausdrücklich zu loben. Außerdem können die Schüler Lobpunkte sammeln. Die Klasse mit den meisten gewinnt den monatlichen  Schulpreis und darf auf Wandertag.

Quinoa-Schule Wedding Reporter Karl Grünberg V„Die Ampel ist jetzt aktiv“, sagt Frau Schäfer zu den Schülern. Die Ampel? Das ist eine Tafel mit drei Spalten:Grün, Gelb, Rot. Alle Schüler beginnen den Unterricht mit Grün. Stört ein Schüler, redet dazwischen, hält sich nicht an Anweisungen wandert sein Name auf Gelb und wenn er weitermacht auf rot. Das passiert unaufgeregt. Frau Schäfer sagt dann nur: „Mario, das war ein gelb.“ Oder: „Jetzt gibt’s rot.“ Kein Rumgebrüllen oder Rumgemeckere, höchstens mal ein: „Das könnt ihr besser“. Einmal rot gibt einen Strich. Dreimal rot gibt ein Konsequenz-Gespräch und eine Arbeit für die Gemeinschaft: Mensa aufräumen zum Beispiel.

„Die Schüler lernen, dass Verhalten Folgen hat. Dass sie eine Wahl haben, wie sie sich verhalten. Aber auch, dass das Verhalten von der Person abgekoppelt ist“, sagt Juliane Schäfer. Damit meint sie: Die Ampel hilft hier, Fehlverhalten aufzuzeigen, ohne dass sich der Schüler als Person in Frage gestellt sieht. Das Ampelverfahren geht auch andersrum. Steht ein Schüler auf gelb, macht aber 10 Minuten gut mit, wechselt er wieder auf grün. Zu zweit teilen sich die Lehrer das auf, einer leitet den Unterricht, der andere beobachtet, lobt oder ermahnt.

8:35 Uhr, die erste Aufgabenstellung erscheint auf dem Whiteboard. „Was machen wir? Was sind die Ziele?“, fragt Frau Schäfer die Klasse. Sofort melden sich ein paar Schüler. Einer liest vor. Ein anderer fasst das Vorgelesene noch einmal mit eigenen Worten zusammen. Das machen sie immer so: Aufgaben werden gemeinsam erarbeitet, damit jeder wirklich weiß, was gemacht werden muss. Diesmal sollen sie Memory spielen und dabei die Gegenwart und Vergangenheit von Verbformen bestimmen.

„Die Schüler haben zum Teil sehr oft gesagt bekommen, dass sie es sowieso nicht schaffen werden. Bis sie es selber glauben und deswegen gar nicht erst anfangen“, sagt Juliane Schäfer. „Das wollen wir aufbrechen. Wir wollen Erfolgsmomente provozieren, damit sie sehen, dass es sich für sie lohnt, sich anzustrengen.“ Dazu zählt auch, dass jeder Schüler einen Tutor an die Seite gestellt bekommt. Das ist ein Lehrer, der sich einmal die Woche 30 Minuten mit seinem Schützling hinsetzt. Dabei geht es um den eigenen Erfolg in der Schule, wo er oder sie gerade steht, was die Ziele sind, wie es zuhause läuft.

Quinoa-Schule Unterricht 3Ja, auch Privates wird besprochen, denn das lässt sich oft nicht trennen. Und es werden Ziele vereinbart. Das können sein: Sich besser zu konzentrieren. Selbstbewusster zu werden und trauen, sich zu melden. Ein Mädchen zum Beispiel möchte lernen, sicherer vor anderen zu sprechen und ihre Meinung standfest zu vertreten. Ein Junge konnte in der 9. Klasse noch nicht die Uhr lesen. Das offenbarte er in einem der Tutorengespräche, in dem es um seine Unpünktlichkeit ging. Frau Schäfer hat sie ihm dann beigebracht. Heimlich. Natürlich. Wäre ja auch peinlich, wenn die anderen es mitbekommen hätten.

9 Uhr, nun ist Einzelarbeit dran, Berichte verfassen. Zwei Schüler verteilen die Arbeitsblätter, dann geht’s los, Zeitvorgabe: 20 Minuten. So macht Frau Schäfer es immer. Jede Aktivität bekommt eine genaue Minutenangabe, die mit der Uhr für jeden sichtbar auf dem Beamer rückwärts abläuft. Bei dieser Aufgabe dürfen die Schüler über Kopfhörer und Handy Musik hören. „Das hilft manchen sich zu konzentrieren, denn nicht jeder hat zu Hause die Möglichkeit, in einem eigenen Zimmer in Ruhe zu lernen“, erklärt Frau Schäfer

Die Klasse ist ruhig, jeder arbeitet oder versucht es zumindest. Die Lehrerin geht herum, erklärt manchen noch einmal die Aufgabe, motiviert andere überhaupt anzufangen. „Du kannst das, ich weiß das, du hast nur keine Lust“, sagt sie zu Memet, der schon wieder aufgegeben zu haben scheint. „Nein, kann ich nicht“, sagt er und will sich wegdrehen. Doch die Lehrerin lässt nicht locker, bis er anfängt die Aufgaben zu lösen. Auch das ist ein Sieg, wenn auch nur ein kleiner.

Die Ampel steht auf rot

Derweil schneidet Mario Grimassen und kaut Kaugummi. Er ist schon fertig und langweilt sich. „Spuck den Kaugummi aus“, fordert Frau Schäfer ihn auf. Mario geht zum Mülleimer, macht einFaxen,  Tanzschritte und spuckt provozierend langsam den Kaugummi aus. „Das reicht, du wanderst auf rot“, sagt Schäfer zu ihm. Er zuckt mit den Schultern und setzt sich wieder. Aber er ist ruhig.

Es sind diese vielen Details, die zeigen, wie durchdacht die Lehrer den Unterricht gestalten. Nach jeder Aufgabe zeigen die Schüler per Daumen, wie gut sie alles verstanden haben. Stoff und Mitarbeit werden von den Schülern in ein Logbuch eingetragen, dass die Lehrer nach jeder Stunde abzeichnen. Es wird eine Woche Deutsch unterrichtet, dann Mathe, dann Englisch. Natur- und Geisteswissenschaften oder das Fach Kreativität wechselt alle drei Wochen. Muttersprachlichen Unterricht gibt es auf türkisch. In dem Fach Zukunft lernen die Schüler Betriebe kennen und machen 10 Wochen im Jahr Praktikum in verschiedenen Werkstätten. So sollen sie herausfinden, was sie gut können und in welchen möglichen Beruf das passt. Die gesamte Schule versammelt sich einmal im Monat, dort können alle gleichberechtigt Entschlüsse fassen.  Aktuell: Die Schüler wollen die Gemeinschaftsarbeiten nicht nur in der Schule machen, sondern auch in einem nahegelegenen Altenheim.

Quinoa-Schule Wedding Reporter Karl Grünberg IIIIn einem Jahr, wenn die erste 10. Klasse ihre Abschlussprüfungen ablegt, wird sich die Schule und werden sich die Lehrer an ihrem eigenen Anspruch messen lassen müssen. Eine kurze Umfrage unter den Schüler zeigt, dass den meisten das strenge System gefällt. „So sind wir ruhiger.“ „Jeder kennt die Regeln und sie gelten für alle.“ „Gemein ist, wenn wir die Handy’s abgeben müssen.“

Die Schule kostet wie alle Privatschulen Geld, aber nur für die, die es sich leisten können. Das sind derzeit sechs der 78 Schüler. Für die übrigen wirbt die Schule Spenden ein und vergibt Stipendien.

10 Uhr, der erste Block ist vorbei. Obwohl Frau Schäfer noch zwei Handys konfiszieren und noch zweimal rot verteilen musste, war der Unterricht erstaunlich ruhig. Die Klasse hat viel geschafft und es wurden nur vier Minuten Unterricht verschwendet. Die Jungs setzen wieder ihre Kapuzen auf, lassen ihre Musik aus den Handy’s tönen. Die Mädchen schnappen sich ihre Cliquen und ab geht es in den Gang, runter auf den Hof und in die Mensa. Vorbei an den Wänden, die Schüler nach Schmierereien neu gestrichen und mit Sprüchen versehen haben: „Diese Wand hat AUCH Gefühle“ Oder: „Schreib die Wand nicht an, sonst bekommst du Probleme mit Mahmut, David und Fatma zu tun“. So ist das in der Quinoa-Schule. Es gibt Probleme, wie in vielen Schulen in Brennpunktgebieten, der Umgang damit ist anders und vielversprechend.

Von: Karl Grünberg, erschienen in Puplik Forum, Juni 2017