Tagesspiegel, 2021.

Wo die Lebenden den Toten ganz nahe sind. Hier liegen ihre Kinder, Eltern, Partner, Geschwister. Sechs Geschichten von Menschen, die auf Berliner Friedhöfen so zu Hause sind – wie sonst nirgendwo. Eine Reportage von Karl Grünberg.

Man sagt, dass der Friedhof für die Verstorbenen sei. Ein bisschen stimmt das. Aber nur ein bisschen. Vielmehr ist der Friedhof ein Ort für die Lebenden. Zu jedem Grab gehören Menschen – und ihre Geschichten.

John und seine Eltern

Kaum war der Sturm über Berlin gezogen, hatte Bäume entwurzelt und Äste abgerissen, musste Scott unbedingt los und nach seinem Sohn schauen. War ihm etwas passiert? Stand alles noch? War mit dem Grabstein alles in Ordnung? Scott setzte sich auf sein Rad und fuhr los, von Treptow bis zum Alten Luisenstädtischen Friedhof am Südstern. Doch die Türen waren verschlossen. „Heute kein Zutritt“ – aus Sicherheitsgründen. Da sprang Scott über die Mauer. Er konnte nicht anders. Er musste zu John. Er musste sich versichern, dass es ihm gut ging, dort in seinem Grab.

„284 Wochen“, sagt Scott jetzt, „so lange ist es her, dass John gestorben ist.“

Im März 2016 war es passiert, in einer Nacht von Freitag zu Samstag, ein plötzlicher Tod nach einem epileptischen Anfall. Die Polizei wollte John abtransportieren lassen, eine Notfallseelsorgerin setzte durch, dass Scott sich von seinem Sohn verabschieden konnte. Ein Moment, für den es keine Worte gibt.

Scott ist der Vater, Monika die Mutter, John ist ihr Sohn. Er ist 50 Jahre alt, sie 49, John wird immer 15 bleiben.

Wir mussten immer aufpassen, immer in Bereitschaft sein.

Johns Mutter

Jeden Tag ist mindestens einer von ihnen bei John. Sommer wie Winter, morgens wie abends, ob Regen oder Schnee, ob heiß oder kalt. Dann nehmen sie eben einen Regenschirm mit oder eine Thermoskanne. Sie kennen diesen Ort in- und auswendig, wann was blüht und wieder vergeht, wo die Maus wohnt und wo der Fuchs langläuft. Die Frau im Nachbargrab war mal eine Hausbesetzerin, die andere Journalistin bei der „Berliner Morgenpost“. Da drüben liegt auch ein Jugendlicher, dessen Eltern haben einen QR-Code auf den Grabstein anbringen lassen. Wenn man den scannt, kommt man auf seine Internetseite.

„Im Sommer gibt es ein Zeitfenster von vielleicht einem Monat. Da wandert die Sonne so weit um die Ecke, dass ihr Licht es auf die Vorderseite vom Grabstein schafft“, sagt Monika. „Dann leuchten Johns Name und sein Foto“, ergänzt Scott.

John hatte einen starken Autismus. Je älter er wurde, desto weniger konnte er still sitzen. Da waren sie also bei der Fotografin für das neue Passfoto, doch John sprang immer wieder auf, drehte sich nach hier und dort. Dutzende Male hatte die Fotografin schon auf den Auslöser gedrückt, was Brauchbares war nicht dabei. Da stellte sich Scott direkt hinter die Fotografin und packte ein Bonbon aus. John hörte das Knistern der Verpackung, schaute auf, lächelte und zack – war das Foto auf der Speicherkarte.

John liebte es, Vögel zu beobachten, überhaupt fand er es toll, in der Natur unterwegs zu sein. „Deswegen habe wir auch diesen Ort und diesen Friedhof ausgesucht, eine Mischung aus Wald und Garten“, sagt Monika. John schwamm gerne, schluckte dabei aber immer viel Wasser, deswegen hätten sie nur die saubersten Seen in Brandenburg rausgesucht. John sprach nicht, konnte aber Sätze imitieren, die er toll fand: „Mhm, lecker“ zum Beispiel. Sein Lieblingsessen waren die Weihnachtsrouladen. Er hatte seine drei schon aufgegessen, da stellte er das Wasserglas von Monika auf die andere Seite des Tisches. Als diese es sich wiederholen wollte, schnappte er sich ihre letzte Roulade.

Überhaupt waren seine Arme und Beine ständig in Bewegung. In Restaurants bediente er sich vom Teller am Nebentisch oder er fegte eine Vase von der Kommode. „Wir mussten immer aufpassen, immer in Bereitschaft sein“, sagt Monika. John wuchs und wuchs. 1,93 war er schließlich groß, kräftig dazu. Für Monika kaum noch zu bändigen, also übernahm Scott den Alltag mit seinem Sohn, machte dafür Praktika in Einrichtungen für Menschen mit Autismus.

All das, Erinnerung, Trauer, Liebe und Schmerz machen sie hier an diesem Ort aus. „Das Grab ist unser zweites Zuhause geworden“, sagt Monika. Sie kümmern sich auch um die Nachbargräber. Sie mähen selber den Rasen und haben Johns Grab so bepflanzt, dass immer etwas blüht.

Gerade ist es der Lavendel und ein Hibiskus. Im Frühling sind es 145 Krokusse, die Scott um das Grab gepflanzt hat.


Der Sänger und sein Mann

Es sollte eine anonyme Beerdigung, ein namenloses Grab werden. Dass hatten Ekki Göpelt und Michael Niekammer noch klären können. Am Tag vor der Beerdigung fuhr Michael auf den Friedhof, um letzte Details mit der Verwaltung zu besprechen. Da begegneten ihm zwei Fans von Ekki. „Wo ist denn das Grab? Wir haben alles abgesucht. Wir wollen uns doch verabschieden“, sagten sie. „Das brachte mich zum Grübeln“, sagt Michael.

Sollte oder durfte man Ekki einfach so ausradieren? Von heute auf morgen einfach weg und keinen Ort zum Erinnern?

Ekki war ja nicht irgendwer, ein Schlagersänger, Moderator, Entertainer und außerdem und vielleicht am wichtigsten: seine große Liebe. 37 Jahre waren sie ein Paar. Nach Ekki wird niemand mehr kommen, da ist Michael sich sicher. Spontan warf Michael alle Beerdigungspläne über den Haufen und suchte ein kleines Urnengrab aus, ein Doppelgrab, „da ist dann noch genügend Platz für mich, wenn es so weit ist“, sagt er.

Anfangs bin ich jede Nacht aufgewacht, weil ich geträumt hatte, dass Ekki mich ruft.

Michael Niekammer

Heute, fünf Jahre später, steht Michael auf dem Auferstehungsfriedhof in Weißensee. Es sind fünf Jahre, in denen er lernen musste, dass er nun alleine ist. „Anfangs bin ich jede Nacht aufgewacht, weil ich geträumt hatte, dass Ekki mich ruft. Ich bin dann durch die Wohnung gelaufen und habe ihn gesucht“, sagt Michael. Heute träumt er nur noch jeden zweiten Tag von ihm und meistens sind es schöne Sachen. Wenn er große Entscheidungen zu treffen hat, geht er zu Ekkis Grab und fragt ihn. „Natürlich antwortet er nicht, das wäre ja auch Quatsch, das weiß ich, aber trotzdem muss ich ihn fragen.“

18 Jahre war Michael alt, als er Ekki kennenlernte. In Warnemünde war das, Ekki spielte mit seiner Band im Hotel Neptun. „Das war der Anfang, obwohl er schon 16 Jahre älter war als ich“, sagt Michael. Er folgte Ekki nach Berlin, arbeitete tagsüber an der Schönhauser Allee im Hähnchenrestaurant „Goldbroiler“. Abends begleitete er Ekki, wenn der Konzerte gab, Schallplatten aufnahm oder im DDR-Fernsehen auftrat.

Wenn Michael hier sitzt, manchmal stundenlang, tauchen plötzlich Leute auf. Sie setzen sich zu ihm auf die Bank und erzählen: dass sie Ekki haben spielen sehen, damals im VEB Fleischkombinat zum Beispiel. Oder im Fernsehen in der DDR-Castingshow „Herzklopfen kostenlos“. Oder sie berichten, wie Ekkis Lieder liefen, während sie jemanden zum ersten Mal küssten. Manchmal ist es eine ganze Traube von Menschen, die sich am Grab trifft. „Die haben Kaffee dabei und Kuchen, dann wird hier geklönt und gelacht“, sagt Michael.

Das Grab ist eine kleine Pilgerstätte geworden und damit ein quasi öffentlicher Ort. Für Michael in Ordnung: „Ekki war ja ein öffentlicher Mensch und auch unsere Beziehung war öffentlich.“ Einmal hat jemand 62 Engel aus Ton auf dem Grab drapiert. „Die habe ich nach einer Weile entsorgt.“

Damals, als Michael noch im „Goldbroiler“ arbeitete, begann er selber Texte zu schreiben. Für Ekki, aber auch für andere Schlagergrößen. „Frag Frau Schmidt“ zum Beispiel wurde eines von Ekkis bekanntesten Liedern. Da ging es um eine Nachbarin, die über alles im Haus Bescheid wusste. Nur die Strophe, in der Frau Schmidt mit einem Fernglas hinter den Gardinen hervorlinst, fiel der DDR-Zensur zum Opfer. Zu große Assoziationen mit der Stasi.

Michael und Ekki, sie teilten sich das Leben, die Wohnung und das Bankkonto. Einmal aber, als deutlich wurde, dass Ekki viel zu viel Alkohol trank, sagte Michael zu ihm: Entweder du hörst damit auf oder ich gehe. Also hörte Ekki damit auf, machte einen Entzug, lag schwitzend, fiebernd und fluchend im Bett.

Ekki musste operiert werden. Doch die Schmerzmittel, die er bekam, waren zu viel für seine Organe. Michael hielt ihm die Hand, war an seiner Seite, trug seine Urne zum Grab. „Ich vermisse ihn wahnsinnig. Ich fühle ihn, wie er mir bei meinen Auftritten zusieht. Ich frage mich, ob er mich gelobt oder kritisiert hätte. Und obwohl ich traurig bin, weiß ich, dass alles gut ist, denn Ekki hatte das beste Leben, das er haben konnte.“

Teil 5


Yeranouhy und ihre Kinder

Manchmal ist es nicht nur die Geschichte einer Familie, die dort mit im Grab liegt. Manchmal ist es das Vermächtnis eines ganzen Volkes. Was die Sache ein bisschen komplizierter macht. Bei Yeranouhy Kalaidjian Hartmann ist das der Fall. 1938 geboren. 2021 gestorben. Immer wieder war sie kurz vor dem Termin im Krankenhaus ausgebüxt, weil sie die Diagnose nicht hören wollte. Dabei muss sie schlimmste Schmerzen gehabt haben. Als sie endlich bereit dazu war und die Ärztin ihr erklärte, was Knochenkrebs ist, lächelte sie, erleichtert irgendwie.

„Verstehen Sie, was ich sage?“, fragte die Ärztin sie. „Ja“, antwortete Yeranouhy, „aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, ich hatte ein reiches Leben. Ich liebte und wurde geliebt, ich tanzte, feierte und habe meine Kinder und Enkelkinder aufwachsen sehen.“

Da liegt sie nun – unter einem Maulbeerbaum am Rande der Abteilung der Armenischen Gemeinde auf dem Luisenkirchhof in Charlottenburg. Der Maulbeerbaum ist wichtig. So einer stand im Hof der Familie im armenischen Viertel in der Altstadt von Jerusalem. Wenn Yeranouhy etwas ausgefressen hatte und ihre Mutter sie bestrafen wollte, kletterte sie bis nach oben. Dort blieb sie, aß die Maulbeeren und kam erst wieder herunter, wenn der Vater sie abends rief.

Ihre Familie hatte Ansehen in Jerusalem, ihre Mutter saß in der Kirche in der ersten Reihe und half bei der Armenspeisung, ein Privileg. Da war der Garten, das Sommerhaus, die anderen Kinder, die armenische Schule. Alles war gut, bis sich der israelische Unabhängigkeitskrieg ankündigte, jemand eine Bombe vor der Altstadt zündet, ein armenischer Junge starb.

„Da machte mein Großvater sein Geschäft zu, ging nach Hause und sagte seiner Frau, dass sie zwei Stunden hat, um die Koffer zu packen“, das erzählt ihre Tochter. Sie war es, die ihre Mutter in den Tod begleitete. Sie ist es auch, die gerade die Wohnung und damit die Vergangenheit ihrer Mutter sortiert.

„Mein Großvater, der Vater meiner Mutter also“, so erklärt sie, „hatte 1915 beim Völkermord an den Armeniern fast seine gesamte Familie verloren. Und das wollte er nicht noch einmal erleben.“

Erst lebten sie in einem Bretterverschlag in Amman, der Hauptstadt von Jordanien. Dann bauten sie sich ein Leben in Beirut auf. Yeranouhy studiert Chemie, macht an der amerikanischen Universität von Beirut eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Assistentin, lernt dort einen deutschen Biologen kennen. Sie heirateten, bekamen zwei Kinder, dann kam der Bürgerkrieg und Yeranouhy ging mit ihm nach Deutschland.

Heimat – für meine Mutter war das entweder Jerusalem oder gar nichts.

Die Tochter von Yeranouhy Kalaidjian Hartmann

Ihre Tochter führt zwischen den armenischen Gräbern hindurch. Erzählt von der Geschichte dieser oder jener Familie. Sie spricht davon, wie es ist, wenn man nirgends eine Heimat hat und wie es ist, über den Globus verstreut zu sein, getrieben von Krieg und Vertreibung.

„Heimat – für meine Mutter war das entweder Jerusalem oder gar nichts“, sagt sie. Doch diese Heimat ist nur noch Erinnerung. Kaum noch Armenier leben in dem alten Viertel, in dem Haus wohnt eine andere Familie und die Gesellschaft ist eine andere geworden. Das Gleiche gilt für Beirut. Einmal, da war Yeranouhy schon in Rente, versuchte sie es mit Armenien. One-Way-Ticket, die Tochter hatte den Auftrag, die Wohnung aufzulösen, falls sie nicht mehr zurückkommen sollte. Nach zwei Wochen war sie wieder da. Auch in Armenien war sie eine Fremde.

Schwer zu erklären sei das, sagt die Tochter. Ihre Mutter sei warmherzig und offen gewesen. Immer kochte sie mehr als genug, immer waren die Nachbarn eingeladen, bei Kindern war Yeranouhy beliebt, weil sie mit ihnen Quatsch machte. Einsam war Yeranouhy nie, richtig angekommen sei sie aber auch nie.

Nun liegt sie hier, mit den anderen Exil-Armeniern, unter einem Maulbeerbaum, in der Erde von Berlin. Die Stadt, die dann doch ihre Heimat geworden ist, ohne dass sie es zugeben konnte, da ist ihre Tochter sich sicher. Auch das ist Friedhof. Ein Ersatz-Frieden, eine Ersatz-Heimat.

Teil 4.


Florian, seine Brüder und der bellende Grabstein

Florian Pauly – so steht es winzig auf dem Namensschild auf dem unscheinbaren Grabstein. Doch was ist das? Über dem Namensschild scheint ein Briefschlitz angebracht zu sein. Links davon prangt eine Art Emblem: ein kerniger junger Mann mit einem überdimensionierten Pinsel in der Hand. Und Flügeln. Rechts davon ist sogar ein Klingelknopf, auf dem „Press“ steht. Ist das eine Einladung? Darf man wirklich an einem Grab herumdrücken? Ja. Und tatsächlich: Ein leises Hundebellen erklingt aus dem Inneren des Steins.

Florian, sein Bruder Andreas hat ihn fotografiert

Wer war dieser Pauly und wer hat diesen Grabstein hierhergestellt? Einst waren sie vier Brüder. In München groß geworden, in Deutschland verstreut. Einer von ihnen erzählt Florians Geschichte.

Als Kind malte er Miniaturen, die so winzig waren, dass man eine Lupe brauchte, um sie zu erkennen. Die Schule brach er ab und ging dafür auf eine Kunstgewerbeschule in Zürich. Er war gut, die ersten Aufträge kamen rein. Er gestaltete Wohnungen, malte Strand, Wolken und Möwen an Wände.

Einmal sollte er aus einem Flur eine Bibliothek machen. Regale, Zeitschriftenstapel und Buchrücken für Buchrücken strich er an die Wand, mit individuellen Titeln und Covern versehen. Ein einziges der Bücher aber war echt, man konnte es aus der Wand ziehen. Kalkuliert hatte er für den Auftrag zwei Wochen, er brauchte Monate dafür.

Wirtschaftlich arbeitete er selten, das machte aber nichts. Geld war nie sein Ziel. Hatte er welches, gab er es sofort wieder aus, lud Freunde ein, ging feiern, genoss das Leben, genoss die Nächte von Berlin, die Stadt der Sehnsüchte, in die er vor Jahrzehnten gezogen war.

Überhaupt ging er mit einer Leichtigkeit durch das Leben. Schließlich war er der kräftige, junge Mann mit dem überdimensionierten Pinsel und den zwei Flügeln. Als er sich mit HIV infizierte, war das schlimm, aber das Leben ging weiter. Zum Glück gab es Medikamente, die die Viruslast zurückdrängten. Diszipliniert nahm er diese, auch wenn die Nebenwirkungen heftig waren.

Doch dann, 2010 muss es gewesen sein, war etwas mit Florian. Er nahm die Medikamente nicht mehr. Stattdessen ging er zu einer sogenannten Heilerin. Irgendwie hatte sie ihn davon überzeugen können, dass er es auch so schaffen könnte, auf natürlichem Wege. Er zog zu ihr aufs Land, brach den Kontakt zu seinen Freunden und seinen Brüdern ab.

Im Krankenhaus konnten sie ihn nicht mehr retten.

Der Grabstein: Klingel und Briefschlitz.

Die Brüder, jetzt nur noch zu dritt, entschieden, dass es für ihren Florian mehr braucht als einen normalen Grabstein. Den Briefschlitz aus Messing bestellten sie bei Ebay. Das Hundebellen ist eine Hommage an Florians letzte große Liebe. Guapo. Ein verwaister kleiner Hund, dessen er sich angenommen hatte, den er vergötterte und mit dem er eine fast schon symbiotische Beziehung einging.

Den Betonsockel gossen die drei Brüder selber, färbten ihn, brachten alles andere an, das war ein Spaß! Nun steht er da, der Grabstein für Florian, auf dem alten St. Matthäus-Kirchhof in Schöneberg. Zehn Jahre schon, die Batterie mussten sie noch nicht auswechseln, der Hund bellt immer noch. Nur einen Brief hat noch niemand durch den Schlitz gesteckt. „Eigentlich schade“, sagt einer seiner Brüder.

Teil 3.


Der ferngebliebene Vater und seine Tochter

Eine Tochter steht am Grab ihres Vaters. Die Stelle hatte sie ausgesucht. Dort eine kleine Hecke, die Schutz und Geborgenheit versprach. Da das Porträtbild des Verstorbenen auf dem Stein im Nachbargrab, das so sympathisch wirkt. Schließlich fiel das Licht so sanft durch die Zweige der umstehenden Bäume. Hier würde es ihm gefallen.

Eva heißt die Tochter, Anfang 30 ist sie und arbeitet als Erzieherin. Einmal in der Woche kommt sie ans Grab, meistens nach der Arbeit. Sie sagt „Hallo“ zu ihrem Vater, setzt sich auf den Boden, direkt vor ihm, so nah wie möglich. Oder sie läuft auf den verschlungenen Wegen über den Friedhof in Schöneberg und denkt nach. Sie braucht das, diese Ruhe hier, den Kontakt zu dem Mann, der ihr Vater war, den sie aber im Alter von 15 Jahren das letzte Mal gesehen hatte.

Plötzlich war er wieder in meinem Leben.

Eva, Tochter
Der Grabstein ihres Vaters.

November 2019, „zwei Polizisten standen vor meiner Tür“, erinnert sie sich. Die Beamten konnten ihr nicht sagen, was genau passiert war, nur das ihr Vater gestorben sei. „Und plötzlich war er wieder in meinem Leben“, sagt Eva. Ohne dass sie darum gebeten hatte. Ohne dass sie wusste, wie sie damit umgehen sollte. „War ich traurig? War ich sauer? Oder geschockt? Oder alles zusammen? Ich musste erst wieder ein Gefühl entwickeln“, sagt sie.

Und dann sieht sie ihn doch wieder. Aufgebahrt im Totenraum. Sie näherte sich ihm langsam und sagte leise: „Hallo, Papa.“ Die einst braunen Haare waren grau geworden, die Falten tiefer, das Gesicht älter, aber ansonsten war es ihr Vater. Er trug die schicke Weste, die sie ihm noch aus seinem Kleiderschrank gesucht hatte, ein paar warme Wollsocken, damit er es gemütlich hatte. „Es war ein Wiedersehen und ein Abschied zugleich.“

Ihr Vater war einer, der tagelang in der ganzen Wohnung riesige Lego-Welten mit ihr aufbauen konnte. Der dann aber auch ganze Tage im Bademantel auf der Couch lag und zu nichts zu gebrauchen war. Da war eine Liebe, die die Mutter und den Vater verbunden hatte, doch für den Alltag reichte es nicht. „Er konnte stundenlang eine dreistufige Torte backen, obwohl es sinnvoller gewesen wäre, die Küche zu putzen und Abendessen zu machen.“

Erst später verstand sie, dass ihr Vater psychische Probleme hatte. Vater und Mutter trennten sich. Eva sah ihn an manchen Wochenenden, die beiden gingen in alle „Herr der Ringe“-Filme oder er nahm sie mit auf Partys. Doch auf einmal hörten die Besuche auf, keiner meldete sich mehr bei dem anderen. 15 Jahre lang. Warum? Das kann Eva gar nicht mehr nachvollziehen. Die Stille wurde immer größer. Das Ungesagte, das nun nicht mehr gesagt werden kann.

Auch deswegen sind das Grab und der Friedhof so wichtig. Hier kann Eva nachdenken. Hier kann sie in sich hineinspüren, kann sich prüfen, wie sauer sie noch auf ihren Vater ist oder wie sehr sie noch trauert, um ihre Kindheit und auch um ihn. Das Zitat auf dem Grabstein hat sie ausgewählt. Es stammt von Erich Kästner. „Ich bin die Zeit, die schleicht und eilt, die Wunden schlägt und Wunden heilt.“

Er habe immer gelesen, sagt sie. „Ich übrigens auch.“

Teil 2.


Benjamin und seine Mutter

Eine Mutter weint. Man sagt ja, dass die Zeit alle Wunden heilen würde. Die Zeit hat bei ihr bisher nur wenig heilen können. Fast vier Jahre ist es her, dass Benjamin erwischt wurde. Von einer Autofahrerin. Er fuhr auf seinem Motorrad in die eine Richtung. Sie fuhr in die andere. Plötzlich machte sie eine Wende, um zu einem Parkplatz zu gelangen. So schnell konnte Benjamin nicht mehr reagieren. All das steht unter Vorbehalt, der Prozess ist bereits zweimal verschoben worden.

Sechs Tage rang Benjamin noch. „In diesen Nächten träumte ich, wie Benni in einer Burg auf einer Treppe steht, die kein Geländer hat. Oben war eine Tür. Auf die ging er zu. Schritt für Schritt. Und ich rief und rief, dass er umkehren sollte.“ Das sagt Zeynep. Sie ist seine Mutter. Anfang 50 ist sie jetzt, eine schwere Brille auf der Nase, die Haare ergraut. „Benni“ steht auf ihrer linken Hand, eintätowiert. Sie flehte, zum Himmel, zu Gott, zu Allah, wer auch immer zuhörte. Doch die Knochenbrüche, die vielen Risse, die inneren Verletzungen waren zu viel für ihn. Er, Benni, 19 Jahre alt, 1,90 Meter groß, 90 Kilo schwer, niemals geraucht, nur ab und zu eine Shishapfeife, starb.

Als ob er geahnt hätte, dass er nicht so viel Zeit hat.

Bennis Mutter über ihren Sohn

Das Grab ist ihr Tempel. Ihr Benni-Tempel. Jeden Tag kommt sie hierher, erklimmt die Treppen, die auf den Hügel des Luisenkirchhofes in Charlottenburg führen. Sie hat gleich zwei Grabstellen nebeneinander gebucht. Für die Trauerweide, die Jahr für Jahr größer wird. Für die Blumen. Für die Fotos. Für die kleinen Modell-Motorräder. Dort liegt auch das Visier, das beim Unfall von seinem Helm abgesprungen war. Bennis Vater hat es gefunden. Mit Edding hat er „Dein Papa“ draufgeschrieben. Neulich saßen drei von Bennis Freunden hier und spielten Uno. Dann waren welche zum Männertag da und haben einen Jägermeister auf ihn getrunken. „Dass die immer noch kommen. Das Leben geht doch weiter“, sagt sie.

Nur ihres nicht. „Ich habe keine Vergangenheit mehr. Ich habe keine Zukunft mehr. Ich weiß nicht, was ich machen soll“, sagt sie. Benni war ihr einziges Kind. Sie und der Vater hatten jahrelang versucht, Benni zu bekommen, bis es endlich klappte.

Zeynep zündet Kerzen an. Sie tauscht die Batterien der Lichterketten aus. Sie mäht das Gras, das sie selber gesät hat. Sie harkt Blätter. Sie gießt. Sie sitzt, raucht und schaut in die Luft. Eine Zuflucht ist das hier für sie geworden. Ein Ort, an dem sie nicht funktionieren muss, an dem sie sich nicht rechtfertigen muss, warum sie immer noch so stark trauert, warum sie nicht mehr arbeiten kann.

Wenn Benni von der Schule kam, klingelte er unten, obwohl er einen Schlüssel hatte. Dringend musste er seiner Mutter durch die Gegensprechanlage sagen, dass er schnell etwas zu essen brauchte. Dann rannte er hoch, pfiff sich das Essen rein und zack, war er wieder verschwunden – Verabredungen. „Als ob er geahnt hätte, dass er nicht so viel Zeit hat“, sagt sie.

„Auf einmal tat er so geheimnisvoll“, sagt Zeynep. Sie überhörte ein Telefonat, in dem er fragte, wie viele Rosen man denn wohl verschenken könnte. Da wusste sie, was Sache war. „Er war so verliebt“, sagt sie, das erste Mal überhaupt. Das Mädchen, Celine hieß sie, „war genauso verrückt wie er, immer lachten sie zusammen und machten Quatsch“. Zeynep holt ihr Smartphone raus und zeigt Videos von den beiden.

Manchmal grübelt sie, ob sie an seinem Unfall schuld ist. Immerhin hatten sie ihm den Moped-Führerschein mit 15 erlaubt. Doch dann schüttelt sie den Kopf. Benni und Technik, dem hätten sie sich nicht in den Weg stellen können. Als Kind reparierte er für seine Freunde Fahrräder, später schraubte er an Modellflugzeugen herum, wieder später an seinen Motorrädern. Seine Ausbildung machte er als Lackierer bei einem Autohaus.

„Ich habe seine Kleidung rausgesucht, als er geboren wurde. Ich habe seine Kleidung rausgesucht, als er beerdigt wurde“, sagt sie. Eine Jogginghose hat Benni an, weil er es immer bequem mochte. Einen Motorradhandschuh hat er im Grab, den anderen hat sie behalten. Und eine Kette, die er immer nur für die Disco anzog. „Der alte Angeber“, sagt sie und lacht.

Vielleicht wird die Zeit doch noch Wunden heilen. Vielleicht wird die Gruppe für verwaiste Eltern ihr weiterhelfen, zu der sie geht. So lange wird dieser Ort, der wichtigste sein, den sie im Moment hat.

Teil 1.