Tagesspiegel, November 2018

Mindestens 30.000 Fahrräder werden pro Jahr in Berlin gestohlen. Die Polizei kommt gegen Hehler und Banden nicht an. Doch manche wollen das nicht mehr hinnehmen. Eine Reportage von Karl Grünberg.

Eine Mutter kommt auf die Polizeiwache, Abschnitt 51 der Direktion 5. Sie will zur Kriminalpolizeilichen Sachbearbeitung, Unterabteilung K22, zuständig für Hehlerei und Sachfahndung. Als sie das Büro betritt, sieht sie ihr Damenrad, das schon auf sie wartet, aus dem Keller geholt, da, wo die vielen anderen sichergestellten Räder stehen. Dieses hier ist ein einfaches Cityrad, sieben Gänge nur, nichts Besonderes, doch die Mutter bricht in Tränen aus, denn für sie hat es die Welt bedeutet.

Jetzt will sie den Beamten einen mitgebrachten Kuchen schenken. Doch die winken ab, dürfen sie gar nicht annehmen. Dann erzählt die Frau: Drei Kinder hat sie, arbeitet als Verkäuferin und dieses Fahrrad, 300 Euro wert, braucht sie. Sie fährt damit zur Arbeit, in die Kita, nach Hause. Machte alles damit. Bis es dann eines Tages weg war. Zum Glück haben es die Beamten wiedergefunden, bei einem Gebrauchthändler, unversehrt und in einem Stück.

„Diese Momente sind gut“, sagt Stefan Kliesch, einer von drei Beamten, die hier arbeiten. „Denn das sind Menschen, die auf ihre Fahrräder angewiesen sind. Für die sind 300 Euro nicht einfach so zu ersetzen. Die haben auch keine Versicherung“, sagt Kliesch.

Die Frage ist nicht, ob, sondern wann ein Rad gestohlen wird

Mein geliebtes Fahrrad wurde geklaut – nicht mal das Schloss war noch da. Das ist ein Satz, der quasi zur Stadt gehört wie der Fernsehturm oder die marode S-Bahn. Trekkingräder, Cityräder, Rennräder, E-Räder, Lastenräder, mal sind sie 300 Euro, mal 8.000 Euro wert. Geklaut, gestohlen, entwendet. Bei Tag und in der Nacht. Im Winter und im Sommer. Ob am Bahnhof abgeschlossen, im Hinterhof abgestellt, im Keller verstaut oder in der Tiefgarage versteckt. Kein Ort, der sicher ist. Und alle scheinen sich damit abgefunden zu haben. Die Betroffenen, weil sie denken, dass sie eh nichts machen können. Die Aufklärungsquote der Polizei liegt bei 3,9 Prozent – niedriger als bei jedem anderen Delikt. 18,6 Millionen Euro, so viel waren die in Berlin geklauten Fahrräder im letzten Jahr wert.

Man könnte also meinen, dass, wer es wagt, sich hier ein Fahrrad anzuschaffen, damit rechnen muss, dass es bald wieder verschwindet. Ein Berliner Naturgesetz, gegen das man nichts tun kann. Es scheint gar nicht die Frage, ob dein Fahrrad eines Tages wegkommt. Die Frage ist, wie lange du darauf fahren können wirst, bis es gestohlen wird. Doch wer klaut da eigentlich und wohin verschwinden die vielen Räder? Was heißt es für eine Stadt und ihre Einwohner, wenn bestimmte Straftaten als unvermeidlich angesehen werden?

Zivilfahnder zuständig für Fahrrad-Hehlerei

Stefan Kliesch hat den Kampf gegen die Diebe aufgenommen. 54 Jahre ist er alt und ein Schutzpolizist aus Überzeugung. Früher war er bei den Einsatzhundertschaften. Kreuzberg. 1. Mai. Immer da, wo es brennt. Nun ist er in den Zivilbereich gewechselt, operative Sachfahndung. Jetzt brennt’s nicht mehr, genug zu tun hat er trotzdem. Ihr Revier: Das sind die Bezirke Neukölln, Friedrichshain und Kreuzberg. Hier kennen sie jeden Händler, jeden Trödler. Jeden, der kauft, verkauft und es dabei mit den vorherigen Eigentumsverhältnissen nicht so genau nimmt. Es ist ein Revier mit 590.400 Menschen, das sind so viele wie in ganz Dortmund zusammen – eine eigene Großstadt in der großen Stadt.

Auch Käufern von Diebesgut droht Ärger

Ihr Job: Hehler schnappen, Ware sicherstellen, Ware zurückbringen, Anzeigen schreiben, vor Gericht aussagen. Ein Hehler ist, wer beispielsweise ein gestohlenes Fahrrad weiterverkauft. Je nach Schwere drohen einem eine Geld- oder auch eine Haftstrafe bis zu fünf Jahren. Ärger kriegt aber auch der Käufer, wenn er hat ahnen können, dass es sich um Diebesgut gehandelt hat. Wer also eines dieser Schnäppchen auf der Straße angeboten bekommt – nur 50 Euro vom netten Kerl gleich neben dem Wochenmarkt – und dann später kontrolliert wird, ist das Fahrrad los und hat eine Anzeige am Hals.

Kliesch ist ein schlanker, trainierter Mann mit einem freundlichen Wohlwollen im Gesicht. Einer, der auch zuhört und sich wirklich mit den Menschen ärgert, wenn ihnen ihr Lieblingsfahrrad geklaut wird. Er weiß, was es heißt, seine Fahrräder zu lieben. Er selbst besitzt fünf. Ein Rennrad. Ein Trekkingrad für lange Reisen. Zwei für den Alltag. Und eines, mit dem er in seiner Freizeit für den Ironman-Triathlon trainiert. 3,86 Kilometer Schwimmen, 42,195 Kilometer Laufen und 180 Kilometer Radfahren. Und so, wie er sich dafür monatelang trimmt, hartnäckig und voller Ehrgeiz, so ermittelt er den Fahrradhehlern hinterher, hartnäckig und voller Ehrgeiz – auch in seiner Freizeit, wenn es sein muss.

Für Kliesch also, diesen Mann, der sagt, dass Polizistsein seine Berufung ist, gehört Fahrraddiebstahl nicht zum anstrengenden, aufwendigen und deswegen ärgerlichen Klein-Klein. Für ihn ist es egal, ob es dabei um ein Fahrrad für 300 Euro oder für 8000 Euro geht. Ein Fahrrad ist ein Fahrrad und es hat jemandem gehört, der es vermisst und der es braucht. „Vielleicht bin ich noch vom alten Schlag“, sagt er. „Ich knie mich rein. Ich zieh das durch. Mich lässt das einfach nicht los. Auch nicht, wenn eigentlich schon Feierabend ist. Und: Ich liebe Fahrradfahren, diese tolle Mischung aus Freiheit und Geschwindigkeit“, sagt er.

Tagsüber kundschaften Banden die Hinterhöfe aus

Doch viel zu selten kann er Beklauten ihr Fahrrad zurückgeben, denn viel zu oft verschwinden vor allem die teuren Exemplare hinter der deutschen Grenze, oft in Osteuropa, sehr oft in Polen. „Das sind hochprofessionelle Diebesbanden, die Berlin ausnehmen wie einen Selbstbedienungsladen“, sagt Kliesch. „Die wissen, nach welchen Marken sie schauen müssen. Die wissen, welche Schlösser wie zu knacken sind.“

Tagsüber kundschaften sie die Hinterhöfe aus, nachts kommen sie vorgefahren, verschaffen sich Zutritt, flexen die Schlösser auf, mit einer Decke übergelegt, um den Lärm zu dämpfen. Das geht so schnell, bevor da jemand aufgewacht ist, sich gewundert und geguckt, vielleicht die Polizei gerufen hat, haben die Diebe die Räder schon auf die Ladefläche gepackt und sind weg.

Vor zwei Monaten erst entdeckte die Bundespolizei in Brandenburg einen weißrussischen Kleinlaster mit 17 gestohlenen Fahrrädern auf dem Weg zur Grenze, fünf davon kamen aus Berlin. Vor einer Woche erst erwischten Polizisten zwei Männer im Plänterwald, die zu später Stunde durch die Straßen gelaufen waren, auf der Suche nach teuren E-Bikes. Zwei davon knackten sie, doch Anwohner hatten sie dabei beobachtet. Die Polizisten fanden sie schließlich, flach auf dem Boden liegend unter einem Gebüsch versteckt. Nach Informationen der „Berliner Zeitung“ stammten die beiden Männer aus Rumänien. Allesamt kleine Fische in einem Schwarm von vielen.

Jetzt holt Kliesch eine Mappe raus. Darin hat er Fälle gesammelt, in denen er Fahrräder aus Berlin auf polnischen Webseiten wiedergefunden hat. Kliesch muss das nicht machen. Er könnte sich einfach weiter auf seine drei Bezirke konzentrieren, könnte in regelmäßigen Abständen die Händler besuchen und deren Bestand mit der Datenbank abgleichen. Denn rein rechnerisch hat er pro Woche nur circa zehn Stunden für die Jagd nach den Fahrradhehlern. Die andere Zeit geht für die Jagd nach Laptops, Kameras und Handys drauf, eben alles, was gerne gestohlen und wiederverkauft wird. Kliesch müsste auch nicht im Internet nach Bildern suchen, müsste nicht die darauf entdeckten Rahmennummern mit dem System abgleichen.

Er macht es trotzdem.

Keiner bekommt sein Rad zurück, wenn es die Grenze passiert hat

Diese Webseiten funktionieren wie bei uns Ebay, erklärt er: mit Bewertungen und Rezension, mit Sternchen und Kundenzufriedenheit. Alles so, als ob sich die Händler überhaupt keine Sorgen machen müssten, erwischt zu werden, sogar mit Adresse, E-Mail-Kontakt und Telefonnummer. Und dann? Übernimmt dann die polnische Polizei, fährt hinterher und nimmt alles hoch?

Tja. Nein. Achselzucken.

„Ich kann nichts weiter machen, als Hehlerei-Anzeigen zu schreiben, sie zur Staatsanwaltschaft zu senden und zu hoffen, dass was passiert“, sagt Kliesch. Erst vor drei Monaten hat er wieder einen Schwung Anzeigen gegen einen Onlinehändler in Polen abgesendet.

Wären die Fahrräder keine Fahrräder, sondern Autos, dann wären sie mit der Anzeige bei der Polizei automatisch europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. Die polnische Polizei könnte und müsste sogar aktiv werden. Der Sprecher des Berliner ADFC, Nikolas Linck, sagt dazu: „Fahrräder werden einfach immer noch nicht ernst genommen und die Fälle bagatellisiert. Dabei ist es eine Frage von Ressourcen und politischem Willen, dem stärker nachzugehen.“

Bisher hat Kliesch keine einzige Rückmeldung von auch nur einem Staatsanwalt bekommen. Er weiß nicht, ob sie jemals in Polen um Amtshilfe gebeten haben, ob überhaupt irgendetwas mit seinen Ermittlungen passiert ist. Das Einzige, was er weiß: Keiner der Bestohlenen der letzten vier Jahre hat sein Fahrrad zurückbekommen, wenn es erst mal die Grenze passiert hatte.

Die Händler wiederum sind eine Weile online präsent, sammeln 100, 150, 200 positive Bewertungen: „Danke, alles bestens, Fahrrad gut angekommen, beste Qualität und perfekt in Schuss“, steht da auf Polnisch unter dem erfolgreichen Verkauf eines gebrauchten Rades der Marke „VSF Fahrradmanufaktur“ Modell T700, Neupreis 1.200 Euro. Und dann schließen sie die Seite wieder, um unter einem anderen Namen und unter einer anderen Adresse neu aufzumachen. Diese Händler, so vermutet Kliesch, könnten auch die Auftraggeber für die Banden sein.

Jedes Jahr zahlen Versicherungen bis zu 120 Millionen Euro

Der Mann am Telefon lacht auf. „Sie fragen nach Fahrraddiebstahl?“ Und in diesem Lachen steckt schon alles drin, was man wissen muss: Desinteresse gepaart mit Hilflosigkeit. Dann blafft er los: „Wissen Sie, was hier los ist? Mord, Totschlag, Banden. Ich wüsste jetzt nicht, wen ich fragen sollte. Es gibt keinen, der das gesondert bearbeitet oder verfolgt. Wie stellen Sie sich das denn vor?“

Der Mann ist nicht irgendwer, sondern einer der Pressesprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. Und vielleicht hat er recht. Wen interessieren schon Fahrräder und der Umstand, dass in Berlin alle 17 Minuten eines davon geklaut wird? Es sind rund 30.000, die Jahr für Jahr bei der Polizei als gestohlen gemeldet werden. Da viele ihre Fahrräder aber gar nicht erst versichern und den Diebstahl dann auch nicht bei der Polizei melden, dürfte die Dunkelziffer um einiges höher liegen. Das vermutet auch der Berliner ADFC: „Viele glauben auch, dass die Polizei eh nichts machen kann“, sagt Sprecher Nikolas Linck. Insgesamt zahlen die deutschen Versicherungen jährlich zwischen 90 und 120 Millionen Euro für gestohlene Räder.

3,9 Prozent Berliner Aufklärungsquote – das heißt aber auch: In vier von 100 Fällen werden die Diebe geschnappt. 2017 waren das insgesamt 1086 ermittelte Verdächtige. 40 Prozent von ihnen sind unter 21 Jahre alt. 42,9 Prozent sind Nichtdeutsche, wobei der Anteil der sogenannten „reisenden Täter“ 19 Prozent betrug. Manche der Gefassten wurden sogar vor Gericht gestellt.

Piotr ist so einer. Ein junger Bursche aus Polen, 24 Jahre alt, heroinsüchtig. Einer der vielen, die nach Berlin kommen, auf der Suche nach dem großen Glück – und den diese Stadt dann verschluckt, einfach so. Die Taten, bei denen er sich hat erwischen lassen, lesen sich in der Gerichtsakte so:

Ein Rucksack voller Werkzeuge

Am 17. November 2015 war Piotr auf Tour in der Friedrichstraße. In seinem Rucksack hatte er „eine Akkubohrmaschine, auf deren Kopf der Angeklagte einen Bolzenschneider aufgesetzt hatte, um mit diesem elektrischen Schneidewerkzeug auch besonders starke Fahrradschlösser aufschneiden zu können. Weiterhin führte der Angeklagte in seinem Rucksack eine Schere, einen Sechskantschlüsselsatz und ein weiteres Werkzeug (,Multitool‘) bei sich. Mittels des Akkuschneidewerkzeugs durchtrennte der Angeklagte gegen 13:50 Uhr das Metallgliederschloss, mit dem der Eigentümer das Fahrrad angeschlossen hatte. Es handelte sich um ein Elektrofahrrad im Wert von etwa 2.500 Euro.“ Piotr war bereits zum zweiten Mal erwischt worden. Dieses Mal bekam er eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten, die aber zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Der Mann ist nicht irgendwer, sondern einer der Pressesprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. Und vielleicht hat er recht. Wen interessieren schon Fahrräder und der Umstand, dass in Berlin alle 17 Minuten eines davon geklaut wird? Es sind rund 30.000, die Jahr für Jahr bei der Polizei als gestohlen gemeldet werden. Da viele ihre Fahrräder aber gar nicht erst versichern und den Diebstahl dann auch nicht bei der Polizei melden, dürfte die Dunkelziffer um einiges höher liegen. Das vermutet auch der Berliner ADFC: „Viele glauben auch, dass die Polizei eh nichts machen kann“, sagt Sprecher Nikolas Linck. Insgesamt zahlen die deutschen Versicherungen jährlich zwischen 90 und 120 Millionen Euro für gestohlene Räder.

Mitunter können die Diebe auch richtig gefährlich sein, wie ein Polizist erst am Mittwochabend erleben musste. Der Beamte in Zivil war auf dem Heimweg, wollte am S-Bahnhof Schichauweg in Lichtenrade auf sein dort abgestelltes Fahrrad wechseln, als er sah, wie sich ein Dieb daran zu schaffen machte. Der Polizist gab sich zu erkennen, wollte den Verdächtigen festnehmen. Da zog der Mann ein Messer, stach zu und entkam. Das Opfer musste ins Krankenhaus, befindet sich aber nicht mehr in Lebensgefahr.

In einem anderen Fall geht es um Ricardo, ebenfalls jung, ebenfalls drogensüchtig, 13-mal vorbestraft. Er stahl ein fast neues Fahrrad im Wert von 1.200 Euro und verkaufte es einen Tag später in einem Fahrradladen. Dazu das Gericht: „Wirtschaftlich profitiert von der Tat hat im Übrigen nicht in erster Linie der Angeklagte, sondern vor allem das Fahrradgeschäft, welches das Fahrrad angekauft hat, obwohl sich für eine mit der Materie befasste Person angesichts des geradezu lächerlich niedrigen Ankaufspreises und des hochwertigen Rades die deliktische Herkunft des Rades förmlich aufdrängen musste. Bezeichnenderweise liegen lediglich Verträge über den Ankauf, nicht aber über den Verkauf vor, sodass die Diskrepanz zwischen Ankaufs- und späterem Verkaufspreis nicht ermittelt werden kann. Auch Ermittlungen zu dem Verbleib des Fahrrads werden so vereitelt.“ Ricardo kam für ein Jahr ins Gefängnis.Anzeige Anzeige

„Die allermeisten Fahrradläden sind seriös“, stellt Polizeibeamter Stefan Kliesch klar. Da gibt es Kaufverträge und Verkaufsverträge und die Händler können genau sagen, woher das Fahrrad kommt. „Schwarze Schafe gibt es aber immer. Die kaufen und verkaufen, ohne nachzufragen. Oder sie zerlegen das Rad und verkaufen die Einzelteile.“ Auch am Rande von Wochenmärkten sieht man immer wieder Straßenhändler, die versuchen, Fahrräder zu verkaufen: auf der Brücke Richtung Kottbusser Tor zum Beispiel und rund um den Sonntagsmarkt am S-Bahnhof Neukölln. Schaut man sich auf Ebay-Kleinanzeigen um, findet man auch eine Reihe von Angeboten, die einem komisch vorkommen. Mehrere Fahrräder vom selben privaten Anbieter, die er angeblich alle selber gefahren hat. Ruft man an, wird man an eine Straßenkreuzung bestellt. Vor zwei Wochen gab es die Polizeimeldung, dass ein Vater das gestohlene Fahrrad seines Sohnes auf Ebay wiederfand. Er arrangierte einen Scheinkauf, informierte aber die Polizei. Die zwei Verkäufer, 26 und 28 Jahre alt, konnten bei der fingierten Übergabe von Zivilpolizisten festgenommen werden. Sie bekamen eine Anzeige wegen Diebstahl und Hehlerei.

Gibt es gar nichts, was man selber tun kann?

„Doch“, sagt Michael Lisowski vom Landeskriminalamt. Er ist bei der Polizei für die Aufklärung und für die Prävention zuständig. Sein Job ist es, einerseits Optimismus auszustrahlen und andererseits die Bürger zu mehr Vorsicht anzuhalten. Er rät: Zwei gute, aber unterschiedliche Schlösser benutzen. Mit ihnen schließt man das Fahrrad an einem festen und im Boden verankerten Gegenstand an. Möglichst kein Baum, denn auch der kann abgesägt werden, wie erst jüngst in Kassel geschehen. Eine Linde war’s und der Dieb hatte mitten in der Stadt den Baum geköpft, um ans 2.000 Euro teure Mountainbike zu kommen.

Die Schlösser sollten nicht nur den Rahmen, sondern auch noch das Vorder- und Hinterrad mitanschließen. Der Vorteil: Zwei Schlösser dauern einfach länger, oft sind die Diebe nur auf eine Schlossart spezialisiert.

Außerdem: „Lassen Sie Ihr Fahrrad bei der Polizei registrieren. Das Kennzeichen am Rahmen schreckt einen potenziellen Täter ab und hilft uns später, den Besitzer ausfindig zu machen. Dazu machen wir regelmäßige Registrierungsaktionen in der ganzen Stadt“, sagt der Polizist.

In Hamburg gab es im letzten Jahr einen großen Polizeieinsatz. Nach monatelanger Ermittlungsarbeit waren 180 Beamte und ein Gabelstapler nötig, um die 3.500 Fahrräder abzutransportieren, die in den Wohnungen einer organisierten Diebesbande gefunden worden waren. Später konnte aber nur ein Bruchteil der Räder ihren Besitzern zugeordnet werden, weil die wenigsten registriert waren.

Fahrradparkhäuser mit Videoüberwachung

In der Kriminalitätsstatistik 2017 steht: „Besonders häufig werden Fahrräder im Bereich großer Abstellplätze entwendet, zum Beispiel an Bahnhöfen, vor Schulen, Sport- und Freizeitstätten oder vor Einkaufszentren.“ Potsdam und Bernau haben reagiert und Fahrradparkhäuser mit integrierter Werkstatt und Videoüberwachung gebaut, inklusive Akku-Aufladestation für E-Bikes. Kostet einen Euro für 24 Stunden.

Und Berlin? Da steht noch nichts. Immerhin: Nach vier Jahren zäher Verhandlungen soll jetzt am S-Bahnhof Zehlendorf eines gebaut werden, vollautomatisch. Größenordnung: 122 Plätze. Anvisierter Baubeginn: 2020. Zusätzlich soll es noch Fahrradbügel und überdachte Doppelstockständer geben. Auch für die Bahnhöfe Pankow und Ostkreuz wird über solch einen Bau nachgedacht. Doch bevor es konkret wird, muss erst einmal eine Machbarkeitsstudie erstellt werden. Ob dann gebaut wird: unklar.

Alles wie gehabt in Berlin? Die Politik hängt hinterher und gibt sich mit kleinen Lösungen zufrieden. Die Polizei kann nichts tun. Die Staatsanwaltschaft ist chronisch überlastet und der Bürger ärgert sich? Ja, alles wie gehabt.

Auch wenn die Polizei jetzt Lockfahrräder mit GPS-Sendern ausstattet. Wie viele es sind und wie oft sie zum Einsatz kommen, sagt sie nicht. Einen Dieb, 38 Jahre alt, aus Serbien und ohne festen Wohnsitz, hat sie dadurch überführen und schon fünf Tage später in einem Schnellverfahren verurteilen können. Das Urteil: sechs Monate Freiheitsstrafe – auf Bewährung ausgesetzt.

Und die Direktion 1, zuständig für Pankow und Reinickendorf, hat seit Mai 2018 eine eigene Ermittlungsgruppe „Velo“. Die Beamten sollen den organisierten Fahrraddiebstahl bekämpfen: Hintergründe ermitteln, Hintermänner aufspüren, Banden erfassen. Was „Velo“ nicht hat, ist ein eigener Staatsanwalt, der die Ermittlungen energisch ins Ausland ausweiten könnte. Nach neun Monaten soll die Arbeit erst mal ausgewertet werden.

„Man könnte ja meinen, dass so viele Fahrraddiebstähle gut für uns Fahrradläden sind“, sagt Annette Blum. „Ist es aber nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Wem einmal, zweimal ein gutes und teures Rad geklaut wurde, der kauft sich so schnell kein neues.“

Schlüsselrohlinge bei Amazon, Anleitungen auf Youtube

Annette Blum weiß, wovon sie spricht, denn sie ist eine der Geschäftsführerinnen von „Velophil“, einem Fahrradladen in Moabit. 54 Jahre ist sie alt und fährt selber am liebsten mit ihrem schweren Offroad-Rad durchs Gelände, wo niemand anderes hinfährt. Zu ihr ins Geschäft kommen Kunden und sagen: Ich will ein Fahrrad und bin bereit, 1.000, 2.000, 3.000 Euro auszugeben. Es sind Kunden, die das Auto ausgemustert haben und aufs Fahrrad umsteigen wollen. Es sind Kunden, die mit dem Rad eine ganz große Tour vorhaben, einmal um die Welt und zurück.

Annette Blum steht jetzt vor dem Regal mit den Schlössern. Zwischen 30 Euro und über 100 Euro kosten sie. „Es gibt keinen sicheren Ort, jederzeit und überall kann dir dein Rad geklaut werden. Dieses Gefühl haben die Menschen“, sagt Blum. Doch was macht dieses Gefühl? „Es schränkt die Leute massiv ein. Sie trauen sich nicht, mit ihrem Rad zur Arbeit zu fahren oder zum Einkaufen. Und wenn, dann nur noch mit einem klapprigen Rad, das nicht wirklich verkehrssicher ist“, sagt sie.

„So ein Schloss hilft gegen die Gelegenheitsdiebe. Wer das richtige Wissen und Equipment hat, kriegt alles auf“, sagt sie. Neben Bolzenschneider, Akkuflex, Dietrich und Hydraulikschere gibt es auch die besonders gemeinen Schlüssel-Rohlinge. Diese kann man sich passend für verschiedene Schlossarten völlig legal im Internet bestellen. Reingesteckt, ein kurzer Schlag und schon ist das Schloss für 100 Euro auf. Anleitungen gibt es auf Youtube. Auf der Händler-Webseite steht: „Sie möchten nicht, dass wir wissen, wer Sie sind? Sie möchten Ihre Bankdaten oder Ihre Adresse nicht durchs Internet schicken? Kein Problem: Wir versenden an jedes Postfach oder c/o Adresse, die Sie uns nennen. Bezahlen können Sie uns bequem mit handelsüblichen Amazon Gutscheinen, diese erhalten Sie in jedem Supermarkt, an jeder Tankstelle oder im Callshop. Rufen Sie uns an! Wir beraten Sie gerne.“

Blum erinnert sich an diese eine Kundin, die ein Spezialrad brauchte, weil sie an einer Muskelschwäche leidet: „Das war eine Spezialkonstruktion. Es musste extragroß sein, aber besonders leicht. Dazu brauchte es diese spezielle Nabe, die allein kostet 1000 und mehr Euro. Viele Male haben wir überlegt, hin und her probiert, welche Teile die besten sind. Am Ende hat das Ding mehrere Tausend Euro gekostet.“

Ein ganzes Leben durcheinander

Die Frau hatte bezahlt, wollte losfahren, ist für eine Minute noch einmal in den Laden gegangen, weil sie etwas vergessen hatte, kam wieder raus, weg war es. „Und es stand nicht auf der Straße, sondern im Hof“, sagt Blum. Es war noch nicht versichert – und ein neues kann sich die Frau nicht leisten. „Diese Diebstähle können eine Menge anrichten, ganze Leben durcheinanderbringen.“

Kurz schweigt sie, dann fällt ihr gleich der nächste Fall ein und der nächste. Kunden in Tränen aufgelöst. Kunden wütend. Kunden verzweifelt. Es sprudelt aus ihr heraus. Der eine Mann, der sich dreimal hintereinander das gleiche Fahrrad gekauft hat, dass ihm dreimal hintereinander geklaut wurde. Jetzt hat er aufgegeben. Die drei Damen, denen ihr Fahrrad am selben Tag am S-Bahnhof Bellevue wegkam. Der Mann, der auf große Welttour wollte, am Wegesrand kurz hinter Berlin anhielt, um rasch zu pinkeln, als er aus dem Busch wiederkam, war das Rad weg.

Artikel in der Samstagsausgabe des Tagesspiegels

Ja, und ihr eigener Fahrradladen. Ein Mann kam herein, sah vertrauenswürdig aus, hatte einen Anzug an, interessierte sich für die guten Räder, für das teure Rennrad zum Beispiel, 8.000 Euro wert. Das soll für seinen Vater zum Geburtstag sein, sagt er. Eine Woche später kam er wieder, wollte es Probe fahren. Zur Sicherheit ließ er einen – wie sich später herausstellte: gefälschten – Führerschein da. Setzte sich rauf, winkte noch und fuhr los. Er kam nie wieder.

Von: Karl Grünberg, erschienen im Tagesspiegel, November 2018