Karl Grünberg ist einen Tag und eine Nacht mit der U8 gefahren. Er hat Familien, Junkies, Musiker getroffen und die Rap-Zeile „Halt die Fresse, sus“ gelernt.
Freitag, 7 Uhr morgens. U-Bahnhof Hermannstraße. Es stinkt nach Pisse und Erbrochenem. Die Wände tragen die Spuren des jahrelangen Kampfs zwischen Sprayern und Putzkolonnen. Hastig rennt ein Mann die Rolltreppe herunter. Zwei Security-Leute mit Hund beobachten misstrauisch die Umgebung. Am Bahnsteig wartet schon die U-Bahn der Linie 8.
Die U8. Mit 24 Stationen und in 18 Kilometern verbindet sie Neukölln, Kreuzberg, Mitte, Wedding und Reinickendorf. Armut und soziale Probleme werden in der U8 so konzentriert sichtbar, wie an kaum einem anderen Ort in Berlin. Ständig passiert etwas Skurriles, Überraschendes oder Trauriges. Zu den Stoßzeiten drängen sich hier Studenten und Schüler, Menschen auf dem Weg zur Arbeit, Kindergartengruppen, Obdachlose, Musiker, Bettler und jede Menge Hunde in den Wagons. Es wird berlinert, Kiezslang gesprochen, dazwischen Englisch, Spanisch, viel Türkisch und Arabisch, und immer wieder Polnisch oder Russisch. Die U8 ist wie eine Bühne. Mit allem, was dazu gehört. Groteske, Komödie, Tragödie, Sozialdrama. Nur: alles echt.
Nächster Halt: Hermannplatz. Am Bahnsteig stehen die Massen jetzt dicht an dicht. Ein Strom von Menschen, die nach oben zur U8 oder nach unten zur U7 wollen, auf den linken oder auf den rechten Bahnsteig. Es wird gedrängt, geschoben, geschubst, böse geguckt und geflucht. Ein stämmiger Vater mit langen Haaren und dichtem Bart trägt einen Kinderwagen wie ein Schild vor sich die Treppe hoch, hinter ihm die zwei Hunde, an der Hand der Mutter die zwei Kinder. Das Signal zum Türenschließen ertönt. Inzwischen ist der Vater oben angekommen. Die Hunde fangen an zu bellen. Das Schauspiel aktiviert die gelangweilten Fahrgäste. Auf einmal schauen alle gebannt auf die Tür. Schaffen sie es? Gerade noch rechtzeitig schiebt der Vater den Kinderwagen zwischen die Türen. Die Notsicherung funktioniert, die Türen gehen wieder auf.
U-Bahnhof Weinmeisterstraße. Es ist inzwischen 11 Uhr und der Berufsverkehr abgeebbt. Zwei junge Dealer auf dem Bahnsteig. Kein ungewohntes Bild. Dass in und um die U8 gedealt wird, ist bekannt. Doch wie offen und ungestört sich der Drogenhandel auf den Bahnhöfen abspielt, verblüfft selbst die hartgesottenen Fahrkartenkontrolleure. „Das ist die Aufgabe der Polizei, da können wir nichts machen“, sagt einer von ihnen und schaut dabei auf die zwei Jugendlichen, die scheinbar unbeeindruckt ihren Geschäften nachgehen. „Wir kontrollieren nur die Fahrausweise, aber die haben immer welche. Schließlich wollen die keinen Ärger.“
„Die“ sehen aus wie 18, haben aber die Meute, die sich um sie herum versammelt hat, gut im Griff. Da ist ein Rastamann mit seinen zwei Hunden und einer Bierflasche in der Hand. Da ist ein junges, blondes polnisches Mädchen, das sich lautstark mit seinen beiden männlichen Begleitern streitet. Da ist ein Szene-Typ mit Hornbrille und Oberlippenbart, der so tut, als ob er nicht dazugehören würde. Außerdem drei stark mitgenommene Gestalten. Dann nehmen die Dealer die Bestellungen auf. Dabei gehen sie reihum und sprechen mit jedem Einzelnen. Dann bleibt einer bei den Kunden, der andere verschwindet mit einem Handy am Ohr nach oben. Ware abholen.
Die einzelnen Abschnitte der U-Bahn-Linie sind fest in der Hand unterschiedlicher Dealerbanden. Hermannstraße bis Boddinstraße, rund um die Weinmeisterstraße und dann wieder Voltastraße bis Osloer Straße. Die großen Bahnhöfe wie Alexanderplatz oder Gesundbrunnen und inzwischen auch das Kottbusser Tor werden ausgelassen. Zu häufig sind hier Polizei und Security unterwegs. Die Treffen zwischen Dealer und Kunden werden per Telefon organisiert, wobei die Dealer immer neue Handynummern verteilen.
14 Uhr, wieder am Hermannplatz. Auf dem Bahnhof will ein Mann 10-Cent-Stücke in das Münztelefon werfen. Dabei zittern seine Hände so stark, dass eine der Münzen zu Boden fällt und wegrollt. Laut fluchend rennt er seiner Münze hinterher. Schließlich kommt das Gespräch doch noch zustande. „Wo? Hermannstraße?“ Ein anderer Mann kommt hinzu und fragt: „Weißt du jetzt, wo er ist?“
Mit der nächsten Bahn fahren die zwei zur Hermannstraße. Am Ende des Bahnsteiges entdecken sie ihren Dealer. Es ist ein kleiner Mann zwischen 25 und 30 Jahren, Lederjacke, dunkle Jeans, dunkle Turnschuhe. Seine schwarzen Haare sind nach hinten gegelt. Er trägt einen schmalen und gut frisierten Bart. Ohne ein Wort zu wechseln, gehen sie zusammen zur Rolltreppe, stecken auf der Fahrt nach oben ihre Köpfe zusammen. Leise wird verhandelt. Den Dealer stoßen seine Kunden ab. Er verzieht sein Gesicht und versucht beim Sprechen, sich von ihnen wegzudrehen. Auf der Zwischenetage wechseln Geld und Ware die Besitzer. Ein U-Bahnfahrer zuckt darüber nur die Achseln. „Klar sehe ich den Drogenhandel. Jeden Tag, hier und auf anderen Linien, aber was soll ich machen. Ich fahre nur die U-Bahn. Die Polizei interessiert vor allem, wo gedealt wird. Ansonsten passiert da nicht viel.“
Plötzlich ertönt ein lauter Tumult auf dem Bahnhof. Eine alte Frau mit weißen Haaren und Fellmantel sitzt umringt von einer Gruppe Kindern und Jugendlichen auf einer Bank. Unsicher blickt sie in die Runde. Ihre Handtasche wurde geklaut. Die Jugendlichen wollen sich vom Acker machen. Doch ein Mann diskutiert lautstark mit der Gruppe. „Wenn ihr gesehen habt, wer es war, müsst ihr das der Polizei sagen. Stellt euch vor, das ist eure Oma.“ Nach 25 Minuten kommt endlich die Polizei und kümmert sich um die alte Dame, die sich umständlich bei allen Helfern bedankt.
Der Mann, der es geschafft hat, die Jugendlichen zum Bleiben zu bewegen, ist 29 Jahre alt und kommt aus Somalia. Die Kapuze seiner Jacke taucht sein Gesicht in einen Halbschatten. Er erklärt, warum er geholfen hat. „Ich musste dafür sorgen, dass die Kinder dableiben und aussagen. Ich wusste einfach, dass es das Richtige war.“ Er redet schnell und unterstreicht seine Worte mit vielen Gesten. „Ich bin selber so einer.“ Dabei schaut er auf die anderen dunklen Gestalten auf dem U-Bahnhof. „Aber niemals würde ich einer alten Frau die Handtasche klauen.“ Mit vier Jahren kam er zusammen mit seiner Familie nach Deutschland. Sein Vater war Diplomat. In Bonn aufgewachsen und zur Schule gegangen, hat er Abitur gemacht und dann ein Studium an der TU in Berlin angefangen. Dann ist sein Vater gestorben und für ihn folgte der Absturz: Drogen, Gefängnis und Straße. Jetzt will er zu entfernten Verwandten nach Australien oder nach Kanada. Irgendwie. Nur weg von hier.
16 Uhr, Kottbusser Tor. Dort steht M., seinen ganzen Namen möge man bitte nicht schreiben. Denn M. war früher einer der Jungs, die „Böses gemacht haben“: Drogen verticken, Bandengeschäfte. Heute, Jahrzehnte später, steht er als Aushilfe im Blumenladen am Kottbusser Tor. Der Laden ist eine Insel der Ruhe. Es riecht nach Blumen und frischer Erde. Durch die Fensterscheibe sieht M. die Menschen zwischen der U1 und der U8 hin und her hasten.
M. erzählt: „Früher habe ich auf die größeren Jungs mit dem vielen Geld und den tollen Autos geschaut. Die bekamen Respekt. Das wollte ich auch, und so verdiente ich mir meinen Respekt und tat vieles, vieles Böses. Dann hat sich bei mir ein Schalter umgelegt. Ich kapierte, dass es das nicht wert war. Etwas mit meinen eigenen Händen schaffen, einen Baum zu pflanzen, ist viel bedeutender.“ Oft redet M. mit den jungen Leuten, die den gleichen Weg einschlagen, wie er früher. „Drei habe ich schon rumgekriegt, das war harte Arbeit. Andere fragen mich aber: ‚Bist du ein Priester?‘ und lachen mich aus.“ Sehr aufmerksam kümmert sich M. um seine Kunden. Er fragt nach Wünschen und Anlässen des Blumenkaufs, gibt Tipps und steckt hier und da Kleinigkeiten hinzu. Als M.’s Nachbar in den Laden tritt, begrüßt M. ihn mit herzlichen Gesten. Kurz reden sie und dann streckt der Nachbar M. ein Essenspaket entgegen. „Immer wenn ich arbeite, kommt er in den Laden und bringt mir eine Kleinigkeit und wir reden kurz“, sagt M. „Das sind die kleinen, aber schönen Dinge, auf die es hier ankommt.“
18 Uhr, Alexanderplatz. Die U-Bahnen im Feierabendverkehr sind brechend voll. Mittendrin stehen zwei Punker, die sich lautstark über ihre Zeit als Straßenkids auf dem Alexanderplatz unterhalten. Plötzlich kommt eine junge Frau ins Abteil. Sie schaut sich kurz um, sie schwankt leicht und dann kniet sie sich zwischen die Menschen auf den Boden. Es ist das blonde Mädchen, das sich sieben Stunden zuvor an der Weinmeisterstraße mit Drogen versorgt hatte. „Mein Name ist Ewalina. Ich komme aus Polen, ich habe kein Geld und muss dringend nach Hause zu meiner kranken Schwester.“ Sofort fängt einer der Punker an zu pöbeln. „Och, nicht die schon wieder.“ Der andere: „Die hab ich doch vor zwei Wochen schon gesehen. Da hat sie den gleichen Sozialmist erzählt. Das interessiert keine Sau.“ Der erste wieder: „Auf die Fresse, ey. Als ich früher Zeitungen verkauft habe, habe ich immer nur gesagt, was ich verkaufe, um eine Spende gebeten und einen schönen Tag gewünscht. Mehr nicht. Alles andere kannste stecken lassen.“ Das Mädchen hält sich ein Tuch vor die Nase und fängt an zu schluchzen.“Och, jetzt heult se auch noch“, stöhnt der Punker.
22.30 Uhr, U-Bahnhof Rosenthaler Platz. Leicht verträumt steht der junge Mann in der Mitte des Bahnsteigs. Sein Kopf wippt im Takt der Musik, seine halblangen Haare fallen ihm über die Augen. Der Sound seiner E-Gitarre ertönt im ganzen Bahnhof. Dann tritt er ans Mikrofon und beginnt, mit rauer Stimme zu singen. Viele Leute bleiben stehen und hören ihm zu, wie er versunken in seiner Musik dem Lärm der herannahenden U-Bahn entgegenspielt. Langsam bildet sich eine Traube von Zuhörern, die eine Bahn nach der anderen vorbeifahren lassen. Sie klatschen und pfeifen, und wenn einer sich löst, um weiterzugehen, wirft er ein wenig Kleingeld in den Gitarrenkoffer. Dann verbeugt sich der junge Mann leicht und spielt weiter. Selbst die Punks, die ihr Lager immer am Eingang des Rosenthaler Platzes aufschlagen, kommen runter und sind begeistert. Um diese Zeit ist das Publikum in der U8 so vielfältig wie Berlins Partyszene. Hier sammelt sich eine Gruppe Grufties. Dort diskutieren spanische Erasmus-Studenten lautstark, wann die beste Zeit ist, um ins Berghain zu gehen.
Über zwei Vierer-Sitze verteilt, fläzt sich eine Bande HipHoper. Sie rappen: „Wenn die Bullen kommen, pscht, vor dem Richter, pscht, keine Aussage, pscht, droh den Zeugen, pscht.“ Sie kommen ins Stocken. Zweiter Versuch – „… droh den Zeugen, pscht.“ Schon wieder klemmt’s. Ein in sein Buch vertiefter Student sieht genervt nach oben und sagt: „Halt die Fresse, sus.“ Die HipHop-Jungs werden aggressiv: „Was, willst’e stressen?“ Der Student: „Oh Mann, so heißt der Text.“ Die Jungs gucken erst irritiert, dann kann man sehen, wie es im Kopf klick macht und sie fangen an zu grinsen. „Alles klar, Mann. Halt die Fresse, sus.“
0.30 Uhr: Auf dem Bahnsteig Kottbusser Tor rockt die „Piano moving company“, nur ein Banjo und eine Gitarre. Aber der Mann mit dem Vollbart und die Frau mit dem schönen Lachen übertragen ihre Begeisterung direkt ins Publikum. Die Mischung aus Unplugged-Rock und Country hält für ein paar Minuten die Familie fest, die auf dem Weg nach Hause ist. Auch das gutgekleidete Pärchen, das aus dem Theater kommt. Den Obdachlosen, der den beiden eine volle Flasche Glühwein hinstellt. Und die Mädchen im Party-Modus. Mit seinem breiten amerikanischen Englisch erklärt der Banjo-Spieler, dass die Band aus sechs Leuten besteht, sich aber nur sie zwei nach Berlin aufgemacht haben, um hier mit Straßenmusik anzufangen. Das klappt ziemlich gut. Oft bietet ihnen jemand aus dem Publikum einen Auftritt an. Der Banjo-Spieler lacht. „Jetzt spielen wir auf dem Bahnhof und im nächsten Moment in einem Club.“
4.30 Uhr, irgendwo zwischen Alexanderplatz und Osloer Straße. Zwei ziemlich betrunkene junge Frauen debattieren die Beziehungsprobleme der einen. Die andere ist Single. Sie versucht ihre Freundin zu überzeugen, dass die Beziehung zum Scheitern verurteilt ist. Dass es sogar besser wäre, sich sofort zu trennen, um größeren seelischen Schaden zu vermeiden. Die Frau in Beziehung munitioniert die Single-Frau unabsichtlich mit neuen Argumenten. Unablässig klagt sie über ihren Freund. Wie der sich aufführe, der Ignorant, und dabei grob und gemeingefährlich ihre Gefühle verletze. Als die Single-Frau gerade Luft holt, um zu einem neuen Trennungsvorstoß anzusetzen, fragt die Frau in Beziehung in die Stille hinein: „Wann hattest du eigentlich deinen letzten Freund?“
6.54 Uhr, Hermannstraße. Ein Pärchen tanzt einen kleinen Walzer auf dem Bahnsteig. Angetrunken wie sie sind, stolpern sie dabei über ihre Füße und müssen sich aneinander festhalten, um nicht hinzufallen. „Du stinkst nach Bier“, ruft sie gespielt empört. „Und du nach Zigaretten“, sagt er und hält sich die Nase zu. Beide küssen sich, lachen wieder. Draußen beginnt ein neuer Tag. Und in der U8 vielleicht eine neue Geschichte. Wieder einmal.
Text von Karl Grünberg, erschienen im tip-Stadtmagazin, 2011