Motorwelt, 2021
„Die Nase im Wind, den Motor vor den Füßen, die Flügel als verlängerte Arme. Da spürt man jeden Windstoß, jedes auf und ab, dann ist man wie ein großer Vogel, der sich in die Höhe erhebt. 100 Meter, 200 Meter, 300 Meter.“ Unser Reporter Karl Grünberg lernt fliegen. Ein Luft-Abenteuer.
Einmal hatten sie hier einen richtigen Airbus-Piloten als Schüler. Der hatte natürlich schon Tausende von Flugstunden hinter sich, dabei Zehntausende von Passagieren von A nach B gebracht, wurde von den Fluggästen beklatscht und von einigen – der schneidigen Uniform sei Dank – auch angehimmelt. Doch eine Sache vermisste der Airbus-Pilot: echtes Fliegen.
„In einem Airbus gibst du das Flugkommando in den Computer, der alles Weitere übernimmt. In der Regel fasst man den Steuerknüppel kaum an“, erklärt Harald Büscher, Ausbildungsleiter der Airman Fliegerschule. Genau deswegen, weil er das echte Fliegen vermisste, kam der Airbus-Pilot zu ihnen raus nach Brandenburg, suchte sich das kleinste und leichteste Flugzeug aus, um wieder zu spüren, wie man richtig fliegt. „Mit der Nase im Wind, der Hand am Steuer und dem Hintern auf der Landebahn“, sagt Harald Büscher und lacht sein kerniges Fliegerlachen.

Überhaupt scheint der 67-Jährige ein Lebemann zu sein, der am liebsten im Cockpit sitzt, aber noch lieber von seinen Flugabenteuern berichtet: zum Beispiel, als er mit einer Cessna um das Horn von Afrika geflogen ist. „Fliegen ist pures Glück und echte Abenteuerlust“, sagt er.
Wir stehen am Rande einer Wiese in Brandenburg. 860 Meter ist sie lang und 40 Meter breit. Malerisch gelegen zwischen zwei gelben Rapsfeldern, gleich in der Nähe des Örtchens Paulinenaue im Havelland. Rechts hängt ein rot-weiß gestreifter Windsack schlaff in der Luft. Links warnt ein Schild vor dem Betreten des Flugfelds. Weiter hinten steht ein Hangar, prall gefüllt mit Oldtimer-Flugzeugen.
Willkommen auf der Grasbahn des Sonderlandeplatzes Bienenfarm, Flugraum G, 30 Kilometer westlich von Berlin. „Jeden Morgen muss der Flugwart einmal die komplette Bahn ablaufen; nicht, dass über Nacht Maulwurfshügel entstanden sind. Das könnte sonst tödlich enden“, beschreibt Harald Büscher die morgendliche Routine.
Genug erzählt: Wer fliegen will, muss aufbauen. Jetzt kommt Toralf Gruner mit Auto und Anhänger langsam auf die Wiese gefahren. Im Anhänger soll sich ein echtes Flugzeug befinden, ein sogenanntes leichtes Luftsportgerät. Das ist die kleinste Klasse, die es gibt. Toralf Gruner macht die Anhängertüren auf und tatsächlich: ein Flugzeug, vier Meter lang, mit eingeklappten Flügeln an der Seite. „Das ist unser Schatz, ein Rebell, ein Ultraleichtflugzeug. Es ist so klein, dass man es in einer Garage unterbringen könnte“, sagt Gruner: „Damit durch die Luft zu gleiten, ist fast wie selbst fliegen.“
Toralf Gruner ist 41 Jahre alt, Gründer und Leiter der Airman Fliegerschule. Ein ruhiger, gelassener Typ. Bevor er spricht, überlegt er erst mal. Mit seiner Schule hat er sich auf die Ausbildung von Piloten in den zwei leichtesten Klassen spezialisiert. „Das sind die Flugzeuge für jedermann. Eine gute Einsteigerklasse, vergleichsweise kostengünstig, und ich finde, dass man mit ihnen den meisten Spaß am Fliegen hat“, sagt er.
Er berichtet, wie ihn bei einem Flug auf einmal zwei Bussarde entdeckten. Erst hatten sie sich vorsichtig angenähert, ihn ein paarmal umkreist, um ihn dann mehrere Kilometer zu begleiten. „Das war so majestätisch“, erinnert er sich. Da hat er den Steuerknüppel für einen kurzen Moment losgelassen, die Hände zu den Seiten ausgestreckt und ist wie ein Vogel mit den Bussarden mitgeflogen. „Geiler geht’s nicht.“ So wie er das erzählt, strahlt das Glück auf seinem Gesicht. Das Glück eines Jungen, der sich seinen Traum erfüllt hat. Und tatsächlich war es sein Großvater, der mit dem jungen Toralf Modellflugzeuge gebaut und fliegen gelassen hat. Bis zu dem Punkt, an dem der Junge zu sich sagte: „Irgendwann will ich selbst in die Luft.“
Vorsichtig zieht Gruner das Flugzeug aus dem Anhänger. Dann montieren er und Büscher die Flügel, verschrauben alles sorgfältig und checken jedes Teil zweimal durch. „Wenn wir in der Luft merken, dass etwas fehlt, kann es unter Umständen zu spät sein“, erklärt Gruner. Das ist auch einer der größten Unterschiede zu einer Autofahrt. Mit dem Auto kann man immer anhalten, wenn etwas klappert oder nicht zu stimmen scheint. „In der Luft kann man nicht anhalten“, sagt Gruner: „Wer gestartet ist, der muss das durchziehen, bis er wieder Boden unter den Füßen hat.“
Alle Checks sind gemacht, der Rebell ist startklar. Gruner zieht den Einsitzer auf die Piste, streift sich einen Pullover über, wickelt sich einen Schal um den Hals, setzt sich die Kopfhörer auf. Funkfrequenz: 122/540. Jetzt kommt auch Harald Büscher mit seiner Maschine aufs Feld, einer Ikarus C42B, einem Ultraleichtflugzeug: Zweisitzer, 100 PS, rund 450 Kilo schwer und damit eine Klasse über dem Rebell anzusiedeln.
Rebell und Ikarus, heute wollen sie einen kleinen Tanz der Lüfte wagen. Beide Piloten setzen sich in ihre Maschinen, starten den Motor, checken noch einmal alles durch. Der Flugwart erteilt schließlich die Starterlaubnis. Die Maschine ruckelt und drückt; sie will los. Schließlich gibt Toralf Gruner ihrem Drang nach, gibt Gas und fährt die Piste entlang, bis er genügend Luft unter den Flügeln hat, um das Flugzeug nach oben zu ziehen. Harald Büscher macht das Gleiche – mit mir auf dem Nebensitz. Ich spüre das Gras unter den Rädern, jede kleine Erhebung. Der Hintern wird in den Sitz gepresst, die Schnauze des Flugzeugs zeigt steil nach oben. Höher, immer höher, bis die Maschinen nebeneinander fliegen, frei wie zwei Vögel.

Wer fliegen will, muss normalerweise viel Geld investieren. Pilotenausbildung, Maschinenkosten, Flugplatzkosten – da kommen schnell mehrere 10.000 Euro zusammen. Für die meisten wäre das ein unerschwingliches Luxushobby. Bei der leichten Sportfliegerei ist es etwas anders. Wer Pilot für die 120-Kilo-Klasse werden möchte, muss für den Pilotenschein mit Kosten zwischen 2200 und 2500 Euro rechnen. In der Theorie lernt man alles über Navigation, Meteorologie und fünf weitere Fächer. In der Praxis geht es neben zahlreichen Überlandflügen auch um den Flugzeug-Check sowie um Start und (Not-)Landung.
„Das erste Mal allein fliegen – das ist der Höhepunkt der Ausbildung“, erzählt Fluglehrer Büscher über die Funkverbindung. Der Soloflug ist der Moment der Wahrheit. Kein Fluglehrer, der neben einem sitzt und eingreifen kann. Toralf Gruner konnte vor seinem ersten Soloflug nicht schlafen, so aufgeregt war er. Doch wenn man es geschafft hat, gibt es eine kleine Feier. Früher hatte man den Schülern danach noch die Krawatten abgeschnitten oder den Hintern mit Brennnesseln ausgepeitscht. Warum ausgerechnet den Hintern? „Weil der Pilot bei so kleinen Maschinen schon mit dem Hintern spürt, in welcher Lage sich das Flugzeug befindet. Wir nennen das den Popomesser“, sagt Harald Büscher.
Die Ikarus und der Rebell umkreisen sich, steigen auf und sinken wieder, je nach Lust und Laune. Unter ihnen ziehen die gelben Rapsfelder vorüber, über ihnen schweben die Wolken, weiter hinten erstreckt sich die Kulisse Berlins. „Fliegen ist unmittelbare Freiheit“, sagt Harald Büscher. Dann überlässt er mir den Steuerknüppel. Er ist leicht zu bedienen, eine kleine Bewegung nur und das Flugzeug wendet seine Schnauze in die eine oder andere Richtung. Im Gegensatz zum Auto muss man hier dreidimensional denken. Es gibt nicht nur links und rechts. Es gibt auch ein oben oder unten. Man soll den Horizont im Auge behalten, damit man nicht zu stark sinkt oder steigt. Gar nicht so einfach, alles fühlt sich sehr fragil an. Der Gedanke, dass aus nur einem Fehler eine Riesengefahr werden kann, begleitet jeden Hebeldruck. Die Windstöße sind zu spüren, das plötzliche Sacken oder Steigen, all das drückt in die Magengrube.
37 Minuten, so lange dauert der Rundflug. Die Zeit vergeht im wahrsten Sinne des Wortes wie im Fluge. Für die Landung übernimmt Harald Büscher wieder den Steuerknüppel. Langsam senkt sich das Flugzeug, gleitet parallel zur Landebahn dahin, bis es aufsetzt und über den Boden holpert. Geschafft! Die beiden Piloten und ich steigen mit breitem Grinsen aus den Sitzen.
„Ich bin schon so viele Male geflogen, doch ist es jedes Mal ein überwältigendes Gefühl“, sagt Toralf Gruner, „nur etwas kalt ist es da oben.“
Glücksgefühle sind das eine, Verantwortung und Gewissenhaftigkeit das andere. „Wir sind Fliegerabenteurer, aber keine Adrenalin-Junkies. Die wären bei uns fehl am Platz“, sagt Büscher. Er berichtet von einer Prüfung: Es türmten sich Schlechtwetter-Wolken auf. Da sagte der Flugschüler zum Prüfer, dass er jetzt abbricht und zurückfliegt. Damit war die Prüfung beendet; der Schüler hatte sie dennoch bestanden. „Dieses Verantwortungsbewusstsein war genau das, was der Prüfer erwartet.“ Man könnte jetzt noch so viel hören: von Fliegerfreundschaften, von den unterschiedlichen Klassen, von plötzlichen Luftlöchern. Doch für heute ist es genug. Sie verstauen den Rebell wieder im Anhänger. Der Ikarus kommt in den Hangar – bis zum nächsten Tanz über den Wolken.
Der ULI V3 Rebell ist ein leichtes Flugsportgerät und gehört zu der leichtesten Klasse der Ultraleichtflugzeuge. Es darf im Leergewicht maximal 120 Kilo wiegen. Der Pilot selbst darf nicht größer als zwei Meter sein und auch nicht mehr als 90 Kilo wiegen.
Die Haut des Rebell besteht aus „lackierter Seide“ und das Gerüst aus Stahlrohren. Der Motor des Flugzeugs hat gerade einmal 30 PS. Das Flugzeug startet schon bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h.
Spitzengeschwindigkeit in der Luft sind 90 km/h. „Fliege ich an einer Bundesstraße lang, winken die Leute aus den Autos und überholen mich“, sagt Toralf Gruner. Doch um Schnelligkeit geht es beim Ultraleichtflugzeug auch nicht: Es geht um das Fliegen an sich. Keine Kabine, keine Scheiben, die einen von der Außenwelt abschirmen. „Wind, Luft, man bekommt alles mit. So wie ganz früher, als Otto Lilienthal das Fliegen erfunden hat“, sagt Gruner.
Von: Karl Grünberg, erschienen in der Motorwelt, Frühling 2021