Greenpeace Magazin / Sommer 2019

Niemanden, sagt Maria Bienert: „Saatgut ist Kulturgut.“ Die Biolandwirtin kämpft dafür, dass Bauern weiterhin ihre eigenen Sorten züchten können. Die Pharmakonzerne und das Patentrecht haben etwas dagegen.

Die kleinen weißen Blüten blinken wie Sterne an einem grünen Nachthimmel. Aber Maria Bienert hat jetzt keine Augen für die schlichte Schönheit der Postelein, einem zarten Wintersalat, frisch im Geschmack. Dreimal hat sie ihn geerntet, jetzt muss er weg. Doch an diesem Dienstag im April dauert alles viel zu lange, geht alles schief. Der Traktor zickt, die neuen Helfer brauchen für jeden Handgriff eine Erklärung, und irgendjemand hat die Sense eingedellt. Während die anderen Mittagpause machen, bringt die Gemüsebäuerin die Sense trotz Delle zum Singen. Jammern bringt ja nichts. Was geschafft werden muss, muss geschafft werden. Schwung um Schwung. Kopf um Kopf. Stiele knicken. Stängel fallen. Hier in der letzten Reihe ihrer riesigen Gewächshalle ackert sie vor sich hin.

Der Traktor zickt. Aber die Kartoffeln müssen in die Erden.

Kurz hält sie inne, zeigt auf den zarten Salat, der da unter ihren schweren Arbeitsstiefel zerbricht und sagt: „Eigenes Saatgut. Im nächsten Winter darf es wieder wachsen.“ Das ist ihr wichtig. Alles was sie selber verantworten kann, nimmt sie in die eigene Hand. Die Qualität des Bodens, der hohe Anteil an Humus, keine Pestizide, keinen künstlichen Dünger, dies sind Dinge, die sie beeinflussen kann. Auch bei den Samen versucht sie, ihre eigene Herrin zu bleiben. Doch das ist komplizierter. Bei Samen geht es um Macht, um Marktanteile und um viele Milliarden Euro, die nur noch die großen Saatgutplayer unter sich aufteilen: DuPont-Dow, ChemChina-Syngenta und Bayer-Monsanto. Weltweit halten sie 60 Prozent Marktanteil bei kommerziellem Saatgut und in Europa kommen im Gemüseanbau 95 Prozent aller Sorten und Samen von ihnen.

Je stärker die Weltbevölkerung wächst, je weniger Anbaufläche zur Verfügung steht, desto wichtiger wird die Frage nach der Zukunft der Ernährung und damit auch der Kampf um die Samen. Samenfest oder Hybrid? Gentechnisch verändert oder wieder mehr alte Sorten? Lizenziert, sortengeschützt, patentiert oder für alle frei erhältlich? Das sind die Fronten im Streit zwischen Saatgutschützern und Konzernen und Maria Bienert steckt mittendrin. „Boden ist Leben, doch mit den Samen fängt alles an“, sagt sie.

Wem gehören also die Tomate, der Brokkoli, die Mohrrübe? Könnte man aus ihnen neue Samen gewinnen und selbst neue Pflanzen großziehen? Wenn man es könnte, dürfte man überhaupt? Das sind die großen Fragen, die auch hier auf dem kleinen Bauernhof von Maria Bienert verhandelt werden.

Brokkoli-Setzlinge.

Maria Bienert ist Biolandwirtin in Taucha in Sachsen, seit zwanzig Jahren schon. Von Demeter zertifiziert, mehr Bio geht kaum. Mit ihrem Mann teilt sie sich einen Hof, von dem sie zwölf Hektar beackert. Kartoffeln, Möhren, Gurken, Rote Bete, Petersilie, Tomaten, Sellerie, Postelein, Paprika, Feldsalat, Dinkel, Weizen und dazwischen Luzerne als Gründünger. Jede der Pflanzen hat ihre eigenen Zeiten und Besonderheiten. Sie sind es, die den Takt bestimmen, mit dem Bienert durch die Jahre geht. Zudem vermehrt sie Saatgut, deshalb wachsen hier Kresse und dort zwei lange Reihen Zwiebeln. Deren Samen bekommt der ökologische Saatguthersteller Bingenheim.

Wenn Maria Bienert über den Hof stapft, in ihrer blauen, dicken Arbeitsjacke, mit ihrer großen Brille, wirkt sie robust und kantig. Wenn sie Anweisungen gibt, wenn sie mal lobend und mit weicher Stimme spricht, dann wieder strenger und bestimmend, merkt man ihr die jahrzehntelange Erfahrung als Chefin an. Motivieren, aber auch sagen, wo es langgeht.

„Früher“, sagt sie, „hatte jeder Bauer seine eigenen Samen, seine eigenen Sorten. Auch ich habe in meiner Meisterausbildung in den Niederlanden gelernt, wie man Samen gewinnt. Doch bei den meisten Landwirten und Gemüsebauern spielt das heute keine Rolle mehr. Die kaufen Hybride und fertig.“

Bei Maria Bienert ist das anders. Ihre Möhre zum Beispiel. Eine eigene samenfeste Hofsorte, süß und knackig. Ihren Ursprung hat sie in der Sorte Rodelika, die Bienert seit Jahren auf guten Geschmack, auf das Äußere und die Anpassung an ihren Boden selektiert. Samenfest heißt, dass aus den Samen auch eine nächste Generation Möhren wachsen kann, bei den Hybriden geht das nicht. Selektieren heißt, dass Bienert nach der Ernte am Förderband steht und die schönsten aus 10.000 Möhren herausnimmt. Schön heißt, dass sie gerade gewachsen, nicht aufgeplatzt, nicht zu groß und nicht zu klein sind.

Gerade standen hier noch die Posteleien. Nun werden Tomaten gepflanzt.

Von den Auserwählten schneidet sie ein Stück ab, probiert und behält sie, wenn sie besonders süß und aromatisch sind. Negative Massenauslese heißt das. Diese Besten werden eingelagert und im Frühjahr im Gewächshaus eingepflanzt. Tage, Wochen, vergehen, bis die Möhre endlich blüht. Nach und nach schneidet Maria Bienert dann die Dolden ab, so nennt man die Blütenköpfe, darin stecken die Samen, die noch herausklamüsert und gereinigt werden müssen.

Ähnlich macht sie es mit ihren Gurken, mit ihrer Paprika, mit dem Kürbis. „Über die Jahre hat sich mein Saatgut, haben sich meine Pflanzen an meinen Boden und an damit an das heiße, trockene Klima in Sachsen gewöhnt.“ Was sie mache, sei wirklich nichts besonders, betont Bienert, das könne jeder. Nur beim Grünkohl nicht mehr. Da kommen neuerdings die Rapskäfer und fressen die Pollen weg. Also muss sie Samen von der Küste bestellen, da weht so viel Wind, da haben die Käfer keine Chance. 

Ob eigenes Saatgut oder dazugekauft, Maria Bienert hat nur samenfeste Sorten in ihrem Boden. Einzig ihre Tomaten sind eine Hybridsorte, die sie jedes Jahr neu kaufen muss. Hybridsorten werden auch Hochleistungssaatgut genannt. Seit den 1930er-Jahren weltweit entwickelt, haben sie in den 1960ern maßgeblich zur sogenannten Grünen Revolution in damaligen Entwicklungsländern wie Indien und Pakistan beigetragen. Hier haben neues Saatgut, neue Anbaumethoden und viel Pestizide zu hohen Ernten geführt und den Hunger und die Kindersterblichkeit zurückgedrängt. Gleichzeitig waren und sind die Umweltschäden katastrophal, es wurden Böden verseucht und Grundwasservorräte  aufgebraucht.

Hybrides Saatgut soll viel Ertrag bei gleichen Produkteigenschaften erzielen. Sprich: Alles Gemüse sieht annähernd identisch aus, was in der industriellen und damit der maschinengerechten Landwirtschaft durchaus praktisch ist. Der von Monsanto gezüchtete Brokkoli zum Beispiel: Er ist besonders langstielig, weswegen der Kopf leicht geerntet werden kann. Alle Pflanzen sind zur selben Zeit reif, weswegen Bauer oder Bäuerin alle auf einmal ernten kann.

Der Nachteil der hybriden Sorten: Ihre Samen müssen jedes Jahr wiedergekauft werden, da sich aus ihnen keine verwertbare nächste Generation ziehen lässt. Hybride sind Saatgute mit eingebautem Nachbauschutz. „So wächst die Abhängigkeit der Bauern vom Hersteller. Was ist, wenn dieser die Preise anzieht? Was ist, wenn dieser die Sorte einfach aus dem Programm nimmt?“, fragt Maria Bienert.

Für ihre Tomaten macht sie eine Ausnahme. Sie hat schon so viel ausprobiert, auch selber selektiert, diese Sorte ist einfach diejenige, die auf ihrem Boden und in ihrem Gewächshaus am besten schmeckt. Eine weitere Folge der Hybrid-Dominanz: Die Vielfalt schwindet. So sind in den vergangenen hundert Jahren circa 75 Prozent der früher landwirtschaftlich genutzten Arten nicht mehr im Boden zu finden, hat die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen herausgefunden. Das heißt: Sie landen auch nicht mehr auf unseren Tellern.

Wem gehören nun Karotte, Salat und Brokkoli? Vom letzteren stehen mehrere hundert Jungpflanzen vor dem Gewächshaus und warten darauf, eingepflanzt zu werden. „Niemandem“, sagt Maria Bienert, „denn Saatgut ist Kulturgut und das sollte frei sein.“ Das ist die einfache Variante. Tatsächlich ist es viel komplizierter.

Da ist das Patentrecht. Die Agrarkonzerne forschen an gentechnisch veränderten Sorten. Sobald eine davon marktreif wird, melden sie für diese neue Sorte, aber auch für den Effekt – etwa Resistenzen gegen Schädlinge – ein Patent an. Mit dem Patent gehört ihnen die Pflanzen, eventuelle Untersorten und teilweise die dazugehörigen Verarbeitungsprozesse. Jeder, der sie anbauen möchte, muss dafür bezahlen.

Umstritten ist, ob auch Pflanzen patentiert werden dürfen, die nicht gentechnisch hergestellt, sondern auf konventionelle Art gezüchtet wurden. Das Europäische Parlament und zahlreiche Organisationen sprechen sich dagegen aus, trotzdem gibt das EU-Patentamt neue Patente auf normale Sorten heraus. Aktuell auf einen Salat aus den Niederlanden, der bei höheren Temperaturen besser keimt und deswegen vielleicht besser an die Klimaveränderungen angepasst ist. Patentiert ist dabei nicht nur der Salat und die Untersorten, sondern eben auch dieser Effekt. Der allerdings lasse sich auch bei Salatwildsorten entdecken, wie die Organisation „No Patents on Seeds“ kritisiert.

Dann gibt es noch den Sortenschutz. Hat ein Zuchtbetrieb eine neue Sorte züchten können, lässt er diese als neue Sorte zertifizieren und meldet einen Sortenschutz an. Damit gehört diese neue Sorte ihm. Wer sie anbauen oder aus ihr für den eigenen Anbau neue Samen gewinnen möchte, bezahlt dafür Geld. Trotzdem dürfen andere Züchter mit dieser neuen Sorte arbeiten, sie kreuzen und aus ihr neue Sorten entstehen lassen. Bei einer Patentierung geht das nicht mehr.

Dann gibt es noch Menschen wie Maria Bienert, die Mitglied bei Kultursaat e.V. ist. Der Verein sammelt Spenden und Forschungsgelder ein. Die gehen an Züchter und Züchterinnen, die dafür neue Sorten züchten und vom Verein zertifizieren lassen. 118 Sorten sind so bislang zusammengekommen. Der große Unterschied: Sie melden weder Sortenschutz noch Patent an. Damit bleibt die Sorte frei und Maria Bienert darf zum Beispiel die Möhre Rodelika nehmen und sie weiterentwickeln. Und jeder darf Bienerts Möhre nehmen, sie zuhause einpflanzen, daraus Samen gewinnen und wiederum anbauen.

Stopp. Traktor anhalten. Das Rohr klemmt schon wieder. Der Boden ist zu uneben. Die drei Jungs müssen runter vom Kartoffelsetzer, der vom Traktor langsam über die Scholle gezogen wird. Maria Bienert schwingt sich vom Traktorsitz, rüttelt und schüttelt an der Maschine, verstellt ein paar Schrauben. Jetzt müsste es gehen, wenigstens noch die nächsten Meter, die nächsten Reihen. Die Bäuerin stemmt die Hände in die Hüfte, schaut hinter sich, die Meter und Reihen, die sie schon geschafft haben. Schaut nach vorne, die Reihen, die noch müssen. „Los, Jungs, weiter geht’s!“

Es quietscht und tuckert, und mit jedem Klack fliegt eine Kartoffel durch das Rohr auf den Boden, die Setzmaschine häuft noch Erde drüber, schon kommt die nächste geflogen. Alles läuft mechanisch. Im Gegensatz zu moderneren Maschinen wird die Erde nicht pulverfein zerbröselt, nicht angepresst oder aufgerissen. „Das dauert länger, doch der der Boden bleibt locker und intakt. So können die Wurzeln das Erd-reich besser durchdringen und die Pflanze bleibt gesünder“, erklärt Maria Bienert. „Simpel, dafür muss man nicht studiert haben.“

Ob es einen Moment gibt, an dem sie zufrieden ist? „Nein“, sagt sie, „es gibt ja immer etwas zu tun, immer eine Entwicklung, immer Luft nach oben. Wie kann ich den Boden verbessern oder mein Saatgut besser selektieren? Wie das Problem mit der Bewässerung lösen?“ Maria Bienert ist Gemüsebäuerin geworden, weil sie nichts sinnloses Arbeiten wollte. Und was ist sinnvoller als sich um das zu kümmern, was alle brauchen? Nach ihrer Lehre in den Niederlanden zog sie drei weitere Jahre um die Welt, von Biobauernhof zu Biobauerhof, mitgearbeitet, Verantwortung übernommen, gelernt. In Brasilien, in Kalifornien, auf Hawaii, Neuseeland, wo sie ein Jahr Kühe gemolken hat, in Australien und in Japan. „Biobauern sind überall gleich“, sagt sie, „eigenwillige Querköpfe, aufgeschlossen und aufgeweckt.“

Worin zeigt sich ihre Eigenwilligkeit? Sie nimmt eine Tüte mit ihren eigenen Calendula-Samen in die Hand. Die Ringelblumen sät sie an ihren Feldrändern. Warum? „Das ist die Frage. Mache ich es für die Bienen? Ernte ich sie? Mich nervt es, dass wir Menschen alles einem Nutzen unterziehen müssen. Ich mache es, weil es schön aussieht.“

Von: Karl Grünberg, Greenpeace Magazin, Sommer 2019