Zeichen, Dezember 2014
Als Kind überlebt Yehuda Bacon die Hölle von Auschwitz, dann wird er Künstler in Israel und lernt das Freundschaft wichtiger ist, als alles andere. Die Geschichte eines Menschenfreundes.
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Es ist spät, fast Mitternacht, als ich Yehuda Bacon in Jerusalem anrufe. „Eine gute Zeit“, sagt er, „denn jetzt habe ich ein paar Momente übrig, in denen ich erzählen kann.“ Sein Tonfall ist sanft, seine Wortwahl wirkt überlegt, doch es ist der Inhalt, der berührt, über den man noch Tage später nachdenken muss.
Jerusalem ist die Stadt, in die er 1946 auswanderte. 17 Jahre war er da alt, alleine und auf sich gestellt. Hinter ihm lag ein zertrümmertes Europa, eine Kindheit in Stücken und eine für immer in Auschwitz und Theresienstadt gebliebene Familie, vor ihm eine Zukunft als geachteter Künstler und Lehrer. Doch bis dahin war es ein schwieriger Weg.
„Nach dem, was ich gesehen, was ich erlebt hatte, fragte ich mich, was für einen Sinn ich meinem Leben überhaupt geben kann“, sagt er. Mitternacht ist auch noch eine gute Zeit, weil dann alles ruhiger ist, nicht nur in seiner Stadt und in seinem Haus, sondern auch in seinen Gedanken. Dann findet er die Muße, in sich hinein zu horchen, zu ordnen und Fragen zu beantworten. Fragen ist er gewöhnt, denn er spricht oft als Zeitzeuge. „Wie konnten Sie als Kind in Auschwitz überleben?“ „War es schwer, danach ein neues Leben aufzubauen?“ Und fragen soll man ihn auch, besonders die jungen Deutschen, die ihn als Freiwillige besuchen. Jedes Jahr ein Neuer, jeweils für einen Tag in der Woche.
Sie helfen ihm, seine Korrespondenz zu ordnen, Briefe und E-Mails zu schreiben. Manchmal kaufen sie ein oder machen sich an die sinnlose Aufgabe, sein Arbeitszimmer aufzuräumen. „Das ist, als ob man den Sand aus der Sahara-Wüste kehren möchte“, sagt er, ich höre das Schmunzeln in seiner Stimme. Doch die meiste Zeit sitzen sie, trinken Tee und unterhalten sich. Er erzählt aus seinem Leben, sie aus ihrem.

„Wie sie war auch ich plötzlich in einer völlig fremden, anderen Welt. Ich kann mir gut vorstellen, wie sich jemand fühlt, der gerade sein Gymnasium fertig hat und dann im wilden Asien ist.“ An dieser Stelle muss er über seine Formulierung lachen. Das war ein bisschen dramatisch. Der Blick aus dem Fenster zeigt eine geordnete Großstadt. Doch: „Es ist wichtig, jemanden zu haben, der einem ein gutes Wort sagt, so weit entfernt von zu Hause, von der Mutter“, sagt er.
Vertrauen schaffen, Tee trinken, erzählen, Briefe aus vergangener Zeit durchgehen, auf diese Art und Weise verpackt er seine Lehren. Sie sind sein Geschenk. Wer möchte, nimmt es, wickelt es aus und lernt. „Ich will weitergeben, aber auf eine positive Weise, auf eine besondere Art“, sagt er. Früher dachte er, dass es reichen würde zu erzählen, was passiert ist. Auf diese erste Lösung, diese erste Kur, wie man die Menschen wieder gut machen könnte, kam er als junger Mann. „Ich dachte, ich hätte die Pflicht dazu“, sagt er. Doch einfach war das nicht.
Yehuda Bacon sprach von den Gaskammern. Aber die Menschen wandten sich ab, wollten das Schreckliche nicht hören, so kurz, nachdem es passiert war. Dann, später, als sie hören und aufarbeiten wollten, musste Yehuda Bacon feststellen, dass die Menschen trotz seines Erzählens nicht automatisch gut wurden. „Sie blieben dieselben. Das brachte mich zum Nachdenken“, sagt er und muss lachen über seine „naive Hoffnung“ von damals. Doch was bedeutet ‚gut‘ für jemanden, der so viel erlebt hat?
Vielleicht steckt die Antwort in dem Satz über das „gute Wort“. Für jemanden ein gutes Wort haben, bedeutet, ihn als Menschen zu sehen und ihm mit Menschlichkeit zu begegnen. „Wenn man wie ich jahrelang ein Ding war, nein, weniger als ein Ding war. Dann merkt man erst, wie glücklich einen gute, freundliche, vertrauensvolle Worte machen können“, sagt er. Seine Rettung war, dass er nach Auschwitz Menschen traf, die genau diese guten Worte für ihn hatten.
„Sie gaben mir den Glauben an die Menschen zurück, denn sie waren einfach gut, ohne etwas dafür zu wollen. Sie hatten eine Liebe zu allen Menschen und haben bei mir, einem Kind, das niemandem vertraute, einen bleibenden Eindruck hinterlassen“, sagt er. Es waren der Pädagoge Přemysl Pitter und der Schriftsteller H.G. Adler, die ihm und anderen jüdischen Kindern, aber auch im Krieg verlorengegangenen deutschen Kindern, in einem Waisenheim in Prag eine Zuflucht boten. Oder Professor Martin Buber oder Professor Hugo Bergmann in Israel.
Alles Menschen, die nicht predigten, sondern vorlebten. Das war es, was ihm das Vertrauen zurückgab. Wenn er den Freiwilligen etwas über Nächstenliebe weitergeben möchte, dann lässt er sie wie zufällig die Briefe von diesen Menschen sortieren und schon sind sie mittendrin. Oder sie sprechen über das aktuelle Israel. „Man wird ja hier von rechts und links bombardiert. Diese sind gut und jene sind schlecht. Entweder. Oder. Aber das existiert nicht im wirklichen Leben“, sagt Yehuda Bacon.
Manche der jungen Deutschen nehmen sein Geschenk an. Das merkt Yehuda Bacon, wenn sie ihm noch Jahre später Briefe schreiben oder ihn besuchen kommen. „Was zählt, ist die menschliche Begegnung. Ich hoffe, dass ich ihnen das mitgeben konnte.“
Von: Karl Grünberg, erschienen im zeichen 3/2014