Kein Klingelschild, sicher ist sicher, niemand soll wissen, wo sie sich treffen. In einem unscheinbaren Gebäude feiert die Jüdische Gemeinde Reutlingen ihre Feste. Dass es überhaupt wieder Juden in der Stadt gibt, ist ein kleines Wunder. Wer sie sind, woher sie kommen und wie sie ihren Glauben leben – ein Besuch. Von Karl Grünberg
Kippa, Chanukka und Reutlingen! Ein Besuch bei der Jüdischen Gemeinde.
Das Gebäude wirkt grau und unscheinbar, Autos fahren im Sekundentakt vorbei und ein einsamer Fußgänger sieht aus, als ob er sich verirrt hätte. Kein Hinweis darauf, dass eine jüdische Gemeinde hier ihren Sitz hat. Man muss wissen, wo man hin will und mit welcher Klingel die Eingangstür aufgeht. Noch ein paar Stufen, durch eine Tür auf der linken Seite und schon steht man mitten drin: im Zentrum des jüdischen Lebens von Reutlingen.
Die Tische dicht an dicht, circa 40 Männer und Frauen sitzen zusammen. Lautstark unterhalten sie sich auf Russisch. Trinken, Essen und die lockere Stimmung erinnern eher an ein großes Familientreffen. Doch die Männer tragen die traditionelle Kopfbedeckung, die Kippa, und ein Thoraschrein macht aus dem kargen Raum einen jüdischen Betsaal. Die Kerzen eines neunarmigen Leuchters werden angezündet, für einen kurzen Moment wird es still im Raum. Es ist Chanukka, das jüdische Lichterfest, das hier gefeiert wird.
Dass es heute wieder Juden in Reutlingen und sogar eine eigene Gemeinde gibt, kann als ein kleines Wunder bezeichnet werden. Als Hitler 1933 an die Macht kam, lebten mehrere jüdische Familien in der Stadt, die als Handwerker, Kaufleute und Beamte zum normalen Straßenbild dazugehörten. Da gab es Samuel Kahn, dessen Kaufhaus mitten am Marktplatz lag, den „Kronenladen“ der Familie Landauer in der Wilhelmstraße oder die „Schuhklinik“ in der Metzgerstraße. Insgesamt waren es mehr als 85 Juden.
Doch die antisemitische Politik der Nationalsozialisten setzte sich auch in Reutlingen durch, es kam zu Geschäftsboykotten und Berufsverboten. Knapp jeder dritte Reutlinger Jude wanderte aus, nach Palästina, in die Schweiz, nach Brasilien. Diejenigen, die nicht fliehen konnten, wurden deportiert und in Arbeits- und Vernichtungslager gesteckt. Nur acht Reutlinger Juden überlebten die Konzentrationslager, 50 wurden ermordet. Doch seit 2003 gibt es wieder eine jüdische Gemeinde in Reutlingen. „Hitler würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass das jüdische Leben wieder da ist“, sagt Lev Lerner. Der 79-Jährige ist einer von fünf Gemeindevorstehern und, wie fast alle der neuen Reutlinger Juden, stammt er aus der ehemaligen Sowjetunion.
Lev Lerner erhebt sich von seinem Stuhl, schaut in den Raum und wartet geduldig bis es still wird. Alle Augen sind auf ihn gerichtet, als er auf russisch von der Bedeutung des Chanukka-Festes erzählt. Er spricht davon, dass es ein fröhliches, ausgelassenes Fest ist, mit koscherem Essen, Wein und Tanz. Es ist eine Feier mit der an die Rückeroberung des zweiten Jüdischen Tempels vor mehr als 2000 Jahren erinnert wird. „Wodka ist auch koscher“, sagt er und tut dabei ein wenig verschwörerisch, deswegen sei es auch kein Problem, dass die eine oder andere Flasche auf den Tischen verteilt steht und sich vor allem die Männer nachschenken. Eigentlich müsste ein Rabbi das Fest anleiten und auch aus der Thora vorlesen. Doch die Jüdische Gemeinde Reutlingen ist eine von mehreren Zweigstellen und muss sich mit Anderen einen Rabbi teilen. Nur alle paar Wochen ist der „Wanderrabbi“ da, hält Gottesdienst und lehrt die Thora. So muss Lev Lerner eben improvisieren und redet selber.
Dass der 79-Jährige einmal eine jüdische Gemeinde mitorganisieren und zusammenhalten würde, hätte er nicht gedacht. „Wir sind Juden aus der Sowjetunion. ‚Jude sein‘ war für uns weniger der Glaube, sondern unsere Nationalität, das stand in unserem Pass, das war unsere Zugehörigkeit. Wenn wir zu Feiertagen in die Synagoge von St. Petersburg gegangen sind, dann nicht, weil wir beten wollten, sondern weil wir zeigen wollten, dass wir Juden waren“, sagt Lev Lerner. 1934 geboren, arbeitete er in der Sowjetunion als Ingenieur für Elektrotechnik. 1991 entschlossen sich Lev Lerner, seine Frau, der Sohn und die Schwiegertochter, als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland zu emigrieren.
Sie kamen nach Baden- Württemberg, lernten Deutsch, suchten sich Arbeit und schlossen sich der jüdischen Gemeinde in Stuttgart, der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, an. Über die Jahre zogen immer mehr Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Reutlingen, sodass die Gründung einer eigenen Zweigstelle notwendig wurde. Lev Lerner ist von Anfang an dabei und weil die Jüdische Gemeinde so eine Art Anker in der neuen Heimat ist, hat er seine Familie mit eingespannt. Ein Klavier erklingt, Lev Lerner, seine Enkelin und ein anderer Mann, um die 50 Jahre alt und in schwarzem Anzug, stimmen ein Chanukka-Lied an. Sie singen auf Jiddisch und auf Englisch. Doch erst als sie anfangen, alte russische Volks- und auch ein Kinderlied zu singen, fallen die Männer und Frauen an den Tischen mit ein.
„Wir machen das, weil wir nicht alleine sein wollen, unsere Kultur und den Glauben leben wollen. In der Sowjetunion ging das nicht, jetzt erst haben wir überhaupt die Möglichkeit dazu“, sagt Lev Lerner. 155 Mitglieder hat die junge Gemeinde. Sie veranstalten Gottesdienste, zelebrieren jüdische Feiertage oder den Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Nazi- Deutschland, organisieren Vorträge und Tage der jüdischen Kultur. Sie sind für einander da, unterstützen sich, eine Gemeinschaft eben. Das Fest ist vorbei, den Helfern wird gedankt, die Tische werden abgeräumt, die ersten gehen. Lev Lerner verabschiedet an der Tür, er umarmt, schüttelt Hände, erinnert an den nächsten Gottesdienst, wenn der Rabbiner wieder da ist. Draußen auf der Straße ist die Luft kühl und frisch, schnell verläuft sich die kleine Menschenansammlung, jeder eilt in eine andere Richtung, bis die Straße wieder leer ist und nur noch die Autos vorbeifahren.
Text von: Karl Grünberg, erschienen im Zama-Magazin, Reutlingen, Mai 2013