erschienen: Kinderspiegel, April 2013
Anna fühlt sich schrecklich in ihrer neuen Klasse. Ist sie vielleicht zu dick? Es muss doch einen Grund geben, warum keiner hier sie mag …
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Eigentlich ist Anna ein mutiges Mädchen. In den Hofpausen steigt sie bis auf die höchste Stelle des Kletterfelsens. Oben schließt sie einmal kurz die Augen, drückt ihren silbernen Anhänger ganz fest und springt. Es ist, als ob sie fliegen würde. Das traut sich keines der anderen Mädchen. Anna liebt ihre Klasse, ihre Freundinnen und sogar ihre Klassenlehrerin. Und sie hat eine beste Freundin: Sarah. Nach der Schule gehen sie immer zusammen nach Hause. Sie erzählen sich alles. Zum Beispiel, wenn sie einen Jungen süß finden und gar nicht aufhören können, an ihn zu denken. Doch mitten in den Sommerferien sagen Annas Eltern, dass sie umziehen müssen. Anna muss dann auf eine neue Schule gehen. Sie kann gar nicht glauben, was sie da hört. Anna rennt in ihr Zimmer und knallt die Tür zu. Eine Woche redet sie kein Wort mit ihren Eltern, so sauer ist sie. Als Anna am ersten Tag nach den Ferien in ihre neue Klasse kommt, hat sie Angst. Sie spürt ihr Herz schlagen und beim Schlucken tut es im Hals weh. Die Jungs beachten sie gar nicht. Aber die Mädchen schauen sich immer wieder zu ihr um und tuscheln.
Lachen sie etwa über Anna?
Das Lieblingskleid, das sie extra angezogen hat, findet Anna auf einmal alt und schäbig. Überhaupt nicht das, was die anderen Mädchen anhaben. Einige von ihnen sind schon geschminkt und haben lackierte Fingernägel. In der Pause steht Anna allein auf dem Schulhof. In ihrer alten Schule hatte sie immer mit ihren Freundinnen gespielt. Hier ist sie alleine, keiner aus der Klasse spricht mit ihr. Anna setzt sich auf eine Bank, beobachtet die anderen und isst ihr Brötchen. Einen Kletterfelsen gibt es auch nicht. Es geht zum Sportunterricht. Vielleicht kann sie zeigen, was sie im Ballwerfen drauf hat, denkt Anna und freut sich. Sie zieht sich in der Umkleide ihr T-Shirt aus. Da geht Matilda, die Beliebteste der ganzen Klasse, an ihr vorbei und sagt so laut, dass alle es hören: „Na, da hat jemand wohl zu viel Pommes gefressen.“
Erst weiß Anna gar nicht, wer gemeint ist. Doch als sie sieht, dass alle anderen zu ihr und auf ihren Bauch schauen, wird ihr ganz schummrig vor den Augen. Sie muss sich hinsetzen und so tun, als ob sie ihre Schuhe zubindet. Sonst wird sie bestimmt losweinen, weil das so gemein ist. So vorne übergebeugt, sieht sie ihren Bauch. Da sitzen drei Röllchen übereinander. Anna fragt sich, ob sie wirklich zu dick ist. Auf einmal findet sich von oben bis unten einfach nur noch hässlich.
Endlich ist diese schreckliche Woche vorbei. Jeden Tag hat Matilda etwas Gemeines zu ihr gesagt. Auf dem Weg nach Hause geht Anna in einen Bäckerladen. So hatte sie es mit Sarah auch immer gemacht. Am leckersten findet sie die gefüllten Streuselschnekken. Anna muss sich einfach eine kaufen, auch ohne Sarah. Draußen auf der Straße holt sie die Streuselschnecke aus dem Papier und beißt hinein. In diesem Moment sieht sie ihr Spiegelbild im Schaufenster: Volle Backen, Puderzucker an der Nase und Vanillepudding an den Fingern. Kein Wunder, dass keiner sie mag. Wie sie aussieht! Sie fängt an zu weinen, doch dann wirft sie vor Wut die Streuselschnecke auf den Boden. Nur noch gesunde Sachen, kein Fett und kein Bäcker, das nimmt Anna sich vor. Denen in der Klasse wird sie es schon zeigen.
Und überhaupt, macht ihre Mutter nicht auch ständig Diäten?
So groß fühlt sich Annas Hunger gar nicht an. Wenn er doch nagt, denkt sie an Matilda und ihre Klasse. Wenn sie so dünn ist wie Matilda, vielleicht wird sie dann in der Klasse akzeptiert? Die ganze zweite Woche hält Anna durch, von morgens bis abends denkt sie ans Essen. Und sie lacht kein einziges Mal. Am Wochenende kommt Sarah zu Besuch. Das ist ein Wiedersehen! Die beiden machen Quatsch, gackern wie zwei Hühner, gehen ins Schwimmbad und schauen einen Film auf dem Beamer. Herrlich! Anna denkt überhaupt nicht an ihre Klasse.
Am Sonntagnachmittag, als der Abschied näher rückt, gehen sie zusammen zum Bäcker.Anna will mit Sarah unbedingt noch Streuselschnecken essen. Als sie draußen vor dem Laden stehen, sieht Anna sich im Spiegel. Da fällt ihr alles wieder ein. Der ganze Kummer ist wieder da. Als Sarah fragt, ob alles in Ordnung ist, platzt alles aus Anna raus. Sie erzählt von Matilda, der Klasse und dass sie sich hässlich findet. Als Anna fertig ist, fühlt sie sich plötzlich viel leichter, wie erlöst. Sarah nimmt ihre Freundin ganz fest in die Arme und sagt: „Du bist ein Dummkopf.“
Sie sei doch die beste Freundin der Welt und überhaupt nicht hässlich. Egal was diese Matilda sagt.
Sarah erzählt, was sie von ihrer Klassenlehrerin gelernt hat. Es ist normal, wenn Mädchen in ihrem Alter schneller wachsen, auch mehr Gewicht bekommen. Sie kommen langsam in die Pubertät, und da gehört es dazu, dass der Körper sich verändert. „Das Tolle an einer Freundin ist doch, dass sie zuhören kann, dass man mit ihr lachen und ihr alles anvertrauen kann. Nicht, ob sie dünn oder dick ist.“
Am Montag geht Anna zum ersten Mal ohne Angst in die neue Schule. Es ist ihr egal, was Matilda sagen wird. In der Pause kommt ein Mädchen zu ihr, das in der ersten Reihe sitzt. Anna hatte sie noch gar nicht bemerkt, so sehr hatte sie immer auf Matilda aufgepasst. Das Mädchen ist erst etwas verlegen, doch sagt dann: „Lass dich nicht von Matilda ärgern. Nicht alle finden gut, was sie zu dir sagt. Ich bin übrigens Elena.“
Von Karl Grünberg, erschienen im Kinderspiegel, der Kinderseite des Tagesspiegels am 27. April 2013